Anmerkungen zur Jahrtausend-Wende
Anmerkungen zur Jahrtausend-Wende
Zunächst glaubte ich, in meinem diesjährigen, zum 14. Mal stattfindenden
Seminar zum Jahreswechsel den besonderen Zahlenwechsel übergehen zu
können. Doch von verschiedenen Seiten darauf angesprochen, wie ich denn
den Wechsel ins Jahr 2000 begehen würde, wurde mir klar, daß ich nicht
ignorieren kann und will, welch große Bedeutung viele Menschen diesem
Ereignis beimessen. So fing ich an, mich für diese Bedeutung in ihrer
oberflächlichen und tiefen Dimension zu interessieren. Mit meinem Hang zum
Perfektionismus war mir aufgefallen, daß das zweite Jahrtausend erst mit dem
31.12. des Jahres 2000 zu Ende geht , also dann erst der Wechsel ins dritte
Jahrtausend stattfindet. Jedoch geht es mir hier nicht um Zahlen-Logik, sondern
um symbolische Bedeutung, und die ist nun mal mit dem Zahlenwechsel vom
Jahr 1999 zum Jahr 2000 verbunden, mit dem Eintritt in das zweitausendste
Jahr nach Christi Geburt.
Oberflächlich betrachtet ist der Beginn des Jahres 2000 zunächst einmal ein
kommerzieller Höhepunkt, an dem viele viel Geld zu verdienen hoffen. Doch
warum ist dieser Jahreszahlen-Wechsel so bedeutungsschwer, daß es kaum
möglich ist, ihn zu ignorieren ?
Der Kommerz hat sich angehängt an die Ausstrahlungskraft einer Idee, ähnlich
wie bei der olympischen Idee. Die Idee eines Jahrtausends konfrontiert uns mit
dem Überindividuellen, mit dem, was größer ist als das Leben des einzelnen
Menschen. Während ein Jahrhundert noch vom Leben einiger weniger einzelner
Menschen überspannt werden kann, ist das bei einem Jahrtausend völlig
ausgeschlossen.
Es fällt auf, daß sich ein neuer Sprachgebrauch verbreitet hat, in dem vom
„Millennium“ gesprochen und der Begriff Jahrtausend vermieden wird. Der
Gebrauch von Fremdwörtern ist fast immer dazu geeignet zu vermeiden, sich in
der seelischen Tiefe berühren zulassen. Aber gerade dadurch wird die
symbolische Bedeutung auch aus dem Bewußtsein verdrängt.
Mit der Jahrtausend-Wende werden Ende und Anfang einer Epoche markiert,
eine Epoche in der Entwicklung des menschlichen Bewußtseins. Die zu Ende
gehende Epoche hat durch die Dominanz der christlich-abendländischen Kultur
zur Vereinheitlichung und zur globalen Verbreitung einer bestimmten
Bewußtseinsform in der ganzen Menschheit geführt. Der Übergang von der
einen zu der anderen Epoche ist kein natürlicher (vorgegebener), es ist ein
kultureller (nur in der Vorstellungswelt existenter) Wechsel. Allerdings fällt die
Jahrtausend-Wende in etwa mit dem am Sternenhimmel beobachtbaren Eintritt
in das sogenannte Wassermann-Zeitalter zusammen.
Der im jetzigen Sprachgebrauch eher vermiedene Begriff des „Jahrtausends“
oder der „Jahrtausend-Wende“ enthält noch die Schwingung mythischer
Symbolik. Die Nazi-Propaganda verstand es zum Teil meisterhaft, auf der
Klaviatur der mythisch-symbolischen Seelenebene zu spielen, und so
benutzten die Nazis in ihrer Propaganda auch den Begriff des „tausendjährigen
Reiches“. Das römische Imperium wie auch das „Heilige römische Reich
deutscher Nation“ sind die zwei uns vertrauten Beispiele tausendjähriger2
Reiche. Doch was berechtigt uns eigentlich dazu, sowohl im 7. Jahrhundert
(753 Gründung Roms) vor wie auch im 3. Jahrhundert nach Christi Geburt von
ein und demselben römischen Imperium zu sprechen oder von ein und
derselben deutschen Nation zu Zeiten Karls des Großen und zu Zeiten
Goethes?
Es sind andere Menschen, andere Techniken, auch die Sprache hat sich
gewandelt, auf der Ebene der konkreten Wirklichkeit ist fast alles verändert,
und doch fühlen sich die Menschen als Römer, als Vasallen oder Feinde Roms
bzw. als Deutsche.
Was fast tausend Jahre überdauert hat, scheint die identitätsstiftende Idee (und
das darauf aufgebaute Ideengebäude) zu sein, mit der die Menschen
identifiziert sind bzw. waren.
Die Jahrtausend-Wende markiert in dieser Sicht einen von vielen Menschen mit
Angst und Hoffnung erlebten Umbruch in der zentralen identitätsstiftenden
Idee: einerseits verfallen die bisher gültigen Werte unserer Kultur (der
Fortschrittsglaube erreicht einen Tiefpunkt), andererseits keimt massenhaft
eine neue Idee, die Idee eines „transrationalen und transpersonalen“
Bewußtseins.
Die tiefere Bedeutung dieser Jahrtausend-Wende läßt sich jedoch nicht
ausloten, ohne den Dreh- und Angelpunkt unserer Zeitrechnung ins Auge zu
fassen: die Geburt Christi.
Auf der symbolischen Ebene ist das der Augenblick, in dem die in der
Menschenseele angelegte Fähigkeit zu grenzenloser Liebe das Licht dieser Welt
erblickt, also konkret wird.
Bei der symbolischen Betrachtung der ersten Jahrtausend-Wende nach Christi
Geburt fällt auf, daß das Kreuz als Symbol des Christentums sich erst nach der
Jahrtausend-Wende mehr und mehr durchgesetzt hat. In den früheren, im
ersten Jahrtausend üblichen Darstellungen stand nicht der gekreuzigte Christus
im Vordergrund, sondern der über den Tod triumphierende auferstandene
Christus. Auch die Kreuzzüge sind ein Phänomen des beginnenden zweiten
Jahrtausends. Das Kreuz ist schon in vorchristlicher Zeit ein Symbol der voll
entfalteten Polarität (Mann und Frau, Tag und Nacht, Leben und Tod, usw.).
Das zweite Jahrtausend steht symbolisch unter dem Zeichen des Kreuzes, die
aufeinander bezogenen Gegensätze von Natur und Technik, von Moral und
Trieb erzeugen ein starkes Spannungsfeld und eine Dynamik, die die
Entwicklung immer mehr beschleunigt. Am Ende des zweiten Jahrtausends ist
auch das Kreuz als Symbol des Christentums in der bisherigen Form am Ende.
Den Kirchen laufen ihre Mitglieder davon, das starke, ungestillte religiöse
Bedürfnis der Menschen sucht sich neue Wege der persönlichen religiösen
Erfahrung.
In der Zahlen-Mystik entspricht dem Kreuz die Zahl 4, die Zahl der voll
entfalteten Polarität. Auf die Zahl 4 folgt die Zahl 5, die Zahl der „quinta
Essentia“, der Quintessenz: der Punkt, auf den es beim Kreuz ankommt; der
Punkt, auf den es in der Welt der Gegensätze ankommt; der Mittelpunkt, der
die Ausgewogenheit zwischen den Gegensätzen herzustellen vermag und der
in der mystischen Tradition unserer Kultur auch als der Christus-Punkt
bezeichnet wird.3
So geht es an der Wende zum dritten Jahrtausend darum, daß jeder einzelne
Mensch diesen Punkt in sich findet, von wo aus die Versöhnung der Gegensätze
möglich ist. Das zentrale Thema des neu beginnenden Jahrtausends ist nicht
mehr die weitere und immer schnellere Entfaltung der Polarität (technischer
Fortschritt), sondern die innere Erfahrung jedes einzelnen Menschen, in der die
Mitte gesucht und gefunden werden kann.
Als einzelner Mensch bin ich zum großen Teil unbewußt identifiziert mit
grundlegenden Rollen, die gleichermaßen geistige Orientierungen und
Begrenzungen darstellen:
Ich bin ein menschliches Wesen. (Identität als Mensch)
Ich bin ein körperliches Wesen. (Körperidentität)
Ich bin ein männliches/weibliches Wesen. (Geschlechtliche Identität)
Ich bin ein sprechendes Wesen. (Sprachliche Identität)
usw.
Die in unserem Kontext bedeutsame Identifizierung könnte in allgemeinster
Form etwa lauten:
Ich bin ein Bürger dieser Welt. (Weltliche Identität oder Welt-Ich)
Im Übergang von der alten zu einer neuen Weltordnung, wenn die alte
Weltordnung zusammenbricht, erleben wir begleitet von Angst und
Unsicherheit einen zeitweiligen Identitätsverlust bzw. eine -krise.
Transformation und Lösung in dieser Krise drücken sich in einem Satz aus, den
Jesus Christus so formuliert hat:
Ich bin (ein Bürger) in dieser Welt, nicht von dieser Welt. (Transformierte
weltliche Identität oder Wesens-Ich)
Wir finden uns vor die Herausforderung gestellt, aufzuspüren und zu
empfinden, was uns von innen aufrechterhält, wenn alles andere wegfällt.