Bewußtwerdung als treibende Kraft des Lebens

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Der göttliche Geist schläft in den Steinen, atmet in den Pflanzen, träumt in den Tieren und erwacht im Menschen. Alte indische Weisheit

Was wir mit den Sinnen wahrnehmen und für wirklich halten, ist nicht die Wirklichkeit selbst, sondern lediglich ihre momentane Erscheinungsform. Allen Erscheinungsformen ist fortwährender Wandel und ihre Vergänglichkeit gemeinsam. Formen und Gestalten sind gewissermaßen die sterbliche Hülle einer innewohnenden unvergänglichen Anwesenheit, die für die Sinne nicht faßbar, jedoch intuitiv spürbar ist. Indem es Form annimmt – unendlich viele Erscheinungsformen annimmt – tritt das allumfassende formlose Sein in Erscheinung und kommt somit ins Dasein, in die Existenz. In der Außenwelt sind es die zahllosen Gestalten und Lebensformen in der Natur, deren Existenz wir mit den Sinnen wahrnehmen, in der Innenwelt sind es Gedanken, innere Bilder, Vorstellungen, Gefühle, Stimmungen sowie körperliche Empfindungen, deren Dasein wir ebenfalls wahrnehmen und erleben können.

Einzig was wirkt, was sich in den Erscheinungsformen auswirkt bzw. durch sie vorübergehend Ausdruck findet – ist die gegebene (erste) Wirklichkeit. Sie selbst bleibt auf ewig unverändert, für die Sinne unsichtbar und leer, ein immerwährendes Geheimnis. Wer die vergänglichen Erscheinungsformen des Daseins oder der Existenz für die Wirklichkeit hält, gleicht dem Kinobesucher, der glaubt, daß der auf der Leinwand gezeigte Film die Realität sei.

Allumfassender göttlicher Geist ist lediglich eine andere Formulierung für das formlose Sein und meint Geist im spirituellen Sinne (lat. spiritus, engl. spirit). Wenn sich der göttliche Geist offenbart und als Schöpfung ins Dasein tritt, bleibt er jedem Geschöpf als Wesen immanent (Innenaspekt), doch kommt nun auch Geist im mentalen Sinne (lat. mens, engl. mind) ins Spiel, der mentale Geist, der die individuelle Gestalt und Einzigartigkeit jedes Geschöpfes im Auge hat (Außenaspekt), zur Unterscheidung der verschiedenen Formen fähig ist und sie entsprechend seiner geistigen Reife und dem dadurch erlangten Verständnis deutet. Für den Geist im spirituellen Sinne gibt es keine Entwicklung: alles ist vollkommen und vollendet. Nur für den mentalen Geist gibt es Entwicklung oder Evolution, deren Grundzüge sich in der Entwicklung des Verständnisses bei einem Kind widerspiegeln.

Zum Sein gehört Bewußtheit – Sein, allumfassendes Bewußtsein oder allumfassender göttlicher Geist meinen daher ein und dasselbe. Hier gibt es nichts, was unbewußt wäre. Im Dasein hingegen schrumpft Bewußtsein zunächst einmal zusammen auf den kleinen begrenzten Bereich, der aus der Perspektive des einzelnen Geschöpfes wahrnehmbar ist (Involution). Das Bewußtsein ist nunmehr partikular und beschränkt: was außerhalb seines begrenzten Bereichs liegt, gehört zum Unbewußten.

Die Entwicklung des mentalen Geistes vollzieht sich als integraler Teil der Evolution des Lebens. Solange ein Geschöpf auf der Stufe des archaischen Bewußtseins symbiotische Einheit erlebt (ungeschieden und eins mit allem), kann es keine Angst geben. Erst wenn die Evolution des mentalen Geistes soweit fortgeschritten ist, daß das Geschöpf sich in seinem Körper als von anderen Körpern getrennt erlebt, ist der Grundstein für Existenzangst gelegt. Die Maus empfindet Todesangst, wenn sie die Katze vor Augen hat. Dadurch entsteht eine zweite Wirklichkeit, weil die im Individuum gebildeten mentalen Urteile Wirkungen hervorrufen – unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt – bis hin zur physischen Manifestation. Sobald mentale Urteile von den Mitgliedern einer Gruppe geteilt werden, erfahren sie enorme Verstärkung und führen auf der Stufe des „homo sapiens“ zur Kulturentwicklung. Aus tiefenpsychologischer Sicht kann diese als unbewußter Versuch der Angstbewältigung verstanden werden (vgl. Wolfgang Giegerich, Die Atombombe als Seelische Wirklichkeit, Zürich 1988). Wenn eine Kultur die Kontinuität der Evolution wahrt – im Vertrauen auf die Selbstregulation des Lebens im Sinne des Allgemeinwohls – so ist sie im Einklang mit der inneren Natur (des Menschen) und mit der äußeren Natur (der Umwelt). Man spricht von „Naturvölkern“ und meint damit eigentlich Kulturen, die im Einklang mit der Natur sind (vgl. Kontinuum-Konzept, Jean Liedloff 1977). Im anderen Fall führt Kulturentwicklung zu einem Bruch in der Evolution, der in religiösen Mythen als Sündenfall und als Vertreibung aus dem Paradies beschrieben wird. Beim Menschen erreicht die mentale Entwicklung im Laufe des ersten Lebensjahrs ein Niveau, auf dem die augenscheinliche Getrenntheit des eigenen Körpers vom Rest der Welt realisiert und damit das Erleben von Existenzangst möglich wird. Jedoch muß nicht jedes Erleben von Todesangst zwangsläufig ein Trauma hinterlassen, insoweit die Gefahr vorbei ist und die Erfahrung vollständig verarbeitet werden konnte. Zur vollständigen Verarbeitung einer als lebensbedrohlich empfundenen Situation benötigt das Kind jedoch die körperliche Nähe, den Halt (körperlich und emotional) und das Mitgefühl seiner nächsten Bezugsperson (normalerweise der Mutter). Sind diese Bedingungen nicht oder nur in unzureichendem Maß erfüllt, entsteht ein Trauma, das aus dem Bewußtsein vollständig verdrängt und abgespalten wird und das den Lebensweg in der weiteren Entwicklung grundlegend bestimmt im Sinne eines unbewußten Vermeidungsverhaltens.

Die Reaktions- und Deutungsmuster im Falle traumatischer Erfahrungen in frühester Kindheit entsprechen dem geistigen Verständnis, das das Kind zu diesem Zeitpunkt erreicht hat und bestimmen später aus dem Unbewußten heraus auch das Denken, Fühlen und Verhalten des Erwachsenen. Die fortgeschrittene Ausreifung des mentalen Geistes beim erwachsenen Menschen (von der magischen über die mythische zur mentalen Ebene) kann jedoch erst fruchtbar werden, wenn dieser sich der bewußten Ergründung seiner Innenwelt zuwendet.

Bild 541022 von Michael Horn, pixelio.de

Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt, ...
Goethe

Dann erst wird es dem Menschen möglich, sich Schritt für Schritt über die Beschränkung der individuellen Perspektive zu erheben, sich der Möglichkeit und Gültigkeit anderer Perspektiven bewußt zu werden und sie anzuerkennen (= Überwindung der Egozentrik), die eigene frühkindliche Prägung bzw. Konditionierung zu erkennen, zu durchschauen und nach und nach die Identifikation mit dem egozentrischen Kontroll- und Führungsanspruch aufzugeben. Jetzt erst kann der Mensch dem Leben wieder bedingungslos vertrauen und sich von innen – von Liebe und Weisheit – leiten lassen.