Skriptum
zur Fortbildungstagung "Bioenergetik und Supervision" des Berufsverbands
der Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, Heilpädagogen (BSH) vom
15.-17.10.1987
Verfasser: Ekkehard Ortmann
I Bioenergetik und die Einheit von Soma und Psyche
Auch für die Bioenergetik sind Körper und
Seele unterscheidbare Ausdrucksformen des menschlichen Daseins, jedoch
werden sie als funktionale Einheit gesehen, als Ausdruck zweier
verschiedener
Aspekte ein und desselben lebendigen Erregungsprozesses:
Körper Seele

Bioenergie
Wie auch bei anderen Formen von Energie (z.B.
Elektrizität) ist die Eigenart der Bioenergie nur an ihren Wirkungen
erkennbar. Die Lebensenergie ist eine organisierende, formgebende,
gestaltende Kraft,
die das menschliche Individuum durch Bewegung zur Entfaltung seiner im
Kern (genet. Code, Wesen) angelegten Möglichkeiten drängt. Jede seelische
Regung wirkt sich körperlich aus, und jede
körperliche Empfindung ist Hinweis auf seelisches Geschehen. Wo immer der
auf Entfaltung gerichtete Fluß der Lebensenergie gestört wird, wirkt sich
das körperlich (Spannung, Schmerz, etc.) und
seelisch (Angst, Wut, etc.) aus.
II Charakter als Widerstandsmuster - Spannung gegen Gefühl
Charakter entwickelt sich als kreative Notlösung des Individuums in einer
wesentliche Grundbedürfnisse nur unzureichend befriedigenden Umwelt.
Ursprünglich dient der Charakter der Abwehr
von Unlust und der Sicherung eines Minimums an Lust, später wird diese
Notlösung durch die Festlegung auf immer wiederkehrende Muster selbst zur
Quelle neuer Unlust. Die Abwehr psychischer
Inhalte (Verdrängung von traumatischen Erlebnissen und unerträglichen
Gefühlen) ist funktional identisch mit muskulärer Spannung bzw. mit
Gewebsveränderungen als Folge andauernder Kontraktion.
Chronische Verspannungen dienen der Aufrechterhaltung einer sozial
akzeptierten Fassade und der Unterdrückung gewaltiger emotionaler
Ausbrüche. Dem nie abreißenden Fluß von aus der Umwelt
aufgenommenen Eindrücken entspricht der Fluß der im Innersten des
Individuums entstehenden Erregung, die sich sammelt, im Organismus
ausbreitet und zu einem Gefühl verdichtet, das sich
schließlich als Bewegung von innen nach außen (Emotion) weiter ausbreitet
und zur äußeren Bewegung der Annäherung (auf etwas zu) oder der Entfernung
(von etwas weg) führt. Die Muskulatur,
ursprünglich Organ der Bewegung und damit für den Ausdruck des inneren
Erregungsflusses zuständig, wird nun eingesetzt zum (Fest-) Halten, als
Staudamm gegen den inneren Erregungsfluß.
Die Struktur dieses Staudamms ist ein Bild für die Charakterstruktur. Es
kann jedoch nicht genug betont werden, daß das Individuum diese Struktur
nicht im Sinne einer ihm anhaftenden Eigenschaft hat,
sondern sich im Zustand größerer Erregung zu dieser Struktur versteift im
Sinne einer lang geübten Gewohnheit.
III Entwicklungsspezifische Bedürfniskonflikte und Lokalisation der Hauptspannung
Es werden verschiedene Charakterstrukturen unterschieden, die
unterschiedliche psychosomatische Reaktionsmuster (= unbewußte Handlungen
und nonverbale Aussagen) auf einen entwicklungs-
spezifischen Bedürfniskonflikt darstellen.

Der genitale Charakter schließlich ist das Idealbild des "gesunden
Menschen, der nicht durch Verdrängung an seine Vergangenheit gekettet,
frei ist, sich voll der Gegenwart hinzugeben und lustvoll zu lieben,
zu arbeiten und zu lernen" (W. Büntig). Zwischen den extremen Polen
"seelenloser Fleischlichkeit" und "blutleerer Seeligkeit" hat der genitale
Charakter seine Balance gefunden, ein körperlich-seelisches
Gleichgewicht, das sich in Anmut, Freude und Schönheit zeigt.
IV Supervision und die Einbeziehung des Körpers
Es geht nicht darum, im Rahmen von Supervisionsarbeit bioenergetische
Übungen oder therapeutische Interventionen einzuführen.
Es geht um eine Erweiterung des Blickfeldes, so daß körperliches Geschehen
in seiner psychischen Bedeutung sichtbar wird:
- Wie atmet die Person (Tempo und Rhythmus, Tiefe, Brust- oder
Bauchatmung, Betonung der Ein- oder Ausatmung) ?
- Wann, bei welchen Themen stockt die Atmung?
- Wie ist der unbewußte mimische und gestische Ausdruck der Person ?
- Wie ist der Ausdruck der Augen ?
- Wie klingt die Stimme, welcher Körperbereich schwingt als Resonanzboden
mit, welcher fehlt?
- Ist Gefühl in der Stimme und wenn ja, welches?
- Welche Ausstrahlung hat die Person? Welche instinktnahe Aussage macht
sie durch ihre Gesamterscheinung ?
- Wieviel Selbstgefühl hat die Person, wieviel Kontakt zu ihrer
Leiblichkeit ?
Die Beachtung dieser Fragen wird es erleichtern, den wahren Kern der in der Supervision angesprochenen Probleme einer Person aufzufinden.
Literatur:
Wesentliche Passagen dieses Skriptums basieren auf einem Artikel von Wolf
Büntig mit dem Titel "Bioenergetik", erschienen in:
R.J.Corsini (Hrg.): Handbuch der Psychotherapie, Bd. I, Weinheim und Basel
1983 (Beltz Verlag)
Dort finden sich auch weitere Literaturhinweise. Ich weise an dieser
Stelle nur auf wenige zur Einführung geeignete Titel hin:
Alexander Lowen: Bioenergetik, Reinbek/Hamburg 1979 (rororo)
Stanley Keleman: Dein Körper formt Dein Selbst, München 1980 (Kösel)
ders.: Leibhaftes Leben, München 1982 (Kösel)
Gerda Boyesen: Über den Körper die Seele heilen, München 1987 (Kösel)