Buber, Martin

Urerinnerung

In allerlei Abwandlungen kehrt mir, zuweilen nach einem Zwischenraum von mehreren Jahren, der gleiche Traum wieder. Ich nenne ihn den Traum vom Doppelruf. Seine Umwelt bleibt sich stets darin ähnlich, daß es eine apparatarme, „primitive“ Welt ist: ich befinde mich in einer großen Höhle, wie die Syrakuser Latomien, oder in einem Lehmbau, der mich im Erwachen an die Fellachendörfer erinnert, oder aber auch am Saum eines riesenhaften Waldes, dessen gleichen gesehen zu haben ich mich nicht entsinne. Der Traum beginnt auf sehr verschiedene Weise, immer aber damit, daß mir etwas Außergewöhnliches widerfährt, zum Beispiel, daß ein kleines, löwenjungenähnliches Tier, dessen Namen ich im Traum, aber nicht im Erwachen kenne, mir den Arm zerfleischt und von mir nur mit Mühe bezwungen wird. Das Seltsame nun ist, daß dieser erste und sowohl der Dauer wie der äußeren Bedeutung der Vorgänge nach weitaus belangreichste Teil der Traumgeschichte stets in einem jagenden Tempo abgespielt wird, als komme es auf ihn nicht an. Dann verlangsamt es sich plötzlich: ich stehe da und rufe.

Meiner wachbewußten Übersicht der Ereignisse nach müßte ich ja annehmen, daß der Ruf, je nachdem, was ihm vorausging, einmal freudig, einmal schreckhaft und einmal wohl zugleich schmerzlich und triumphierend sei. Aber mein Gedächtnis am Morgen meldet ihn mir nicht so gefühlsbetont und wandlungsreich; es ist jedesmal derselbe Ruf, nicht artikuliert, aber rhythmisch streng, ab und wieder ansetzend, schwellend bis zu einer Fülle, die meine wache Kehle nicht trüge, lang und langsam, ganz langsam und sehr lang, ein Lied-Ruf - wenn er endet, stockt mir der Herzschlag. Dann aber erregt sich irgendwo, in der Ferne, auf mich zu ein anderer Ruf, ein anderer und der gleiche, der gleiche von einer anderen Stimme gerufen oder gesungen, dennoch nicht der gleiche, nein, ganz und gar nicht ein „Widerhall“ des meinen, vielmehr sein wahrer Gegenhall, Ton um Ton die meinen nicht, auch nicht abgeschwächt, wiederholend, sondern den meinen entsprechend, entgegnend, - so sehr, daß die meinen, die eben erst meinem eigenen Ohr durchaus nicht fragend klangen, nun als Fragen, als eine lange Reihe von Fragen erscheinen, die jetzt alle eine Antwort empfangen, unausdeutbar so Antwort wie Frage. Und doch scheinen die dem einen gleichen Ruf entgegnenden Rufe einander nicht zu gleichen.

Die Stimme ist jedesmal eine neue. Wie nun aber die Erwiderung zu Ende ist, im ersten Nu nach ihrem abscheidenden Schall, gerät eine Gewißheit, eine echte Traumgewißheit über mich: Nun ist es geschehen. Nichts weiter. Nur eben dies, gerade so: Nun ist es geschehen. Wenn ich es zu erklären versuchen soll, bedeutet es, daß jene Begebenheit, die meinen Ruf erzeugte, jetzt erst, mit dem Gegenhall, sich wirklich und unanzweifelbar begeben hat.

So ist der Traum jedesmal wiedergekehrt - bis auf eins, das letzte Mal, nun vor zwei Jahren. Erst wars wie sonst (es war der Traum von dem Tier), mein Ruf verklang, wieder stand das Herz mir still. Dann aber war Stille. Kein Gegenruf kam. Ich horchte hin, erhorchte keinen Laut. Ich erwartete nämlich, zum erstenmal, die Antwort, die mich sonst stets, als hätte ich sie nie zuvor erfahren, überrascht hatte; die erwartete blieb aus. Nun jedoch geschah etwas in mir: als hätte ich bisher keine anderen Zugangswege von der Welt zur Empfindung gehabt, als die über die Ohren führen, jetzt aber entdeckte ich mich als schlechthin mit Sinnen, organbekleideten und nackten, ausgestattetes Wesen, so reichte ich mich offen, zu aller Empfangnahme, Wahrnahme aufgeschlossen, an die Ferne. Und da kam, nicht aus ihr, sondern aus der Luft nah um mich, lautlos die Antwort. Eigentlich kam sie nicht, sie war da. Sie war - so darf ich wohl erklärend sagen - schon vor meinem Ruf da gewesen, war überhaupt da und ließ sich nun, da ich mich ihr auftat, von mir empfangen.

Ich habe sie so vollständig wahrgenommen wie nur je den Gegenhall in einem der früheren Träume.

Wenn ich berichten sollte, womit, würde ich berichten müssen: mit allen Poren meines Leibes. Wie nur je der Gegenhall in einem der früheren Träume, entsprach, entgegnete sie. Sie übertraf ihn noch in einer ungekannten, schwer zu bezeichnenden Vollkommenheit: eben daß sie schon da war.

Als ich geendet hatte sie aufzunehmen, verspürte ich wieder, glockenhafter als je, jene Gewißheit: Nun ist es geschehen.

Martin Buber: Zwiesprache

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