Der falsche und der wahre König
Eine Unterscheidung, die ich für notwendig und sinnvoll halte, ist die Unterscheidung zwischen dem Egoismus, also der Tyrannei des Ich, und dem, was oft etwas ungenau als „gesunder Egoismus“ bezeichnet wird.
Mit den Worten, die dem 70-jährigen Charlie Chaplin fälschlicherweise zugeschrieben worden sind, jedoch in Wahrheit von der amerikanischen Autorin Kim McMillen stammen:
„Als ich mich selbst zu lieben begann, habe ich mich von allem befreit, was nicht gesund für mich war, von Speisen, Menschen, Dingen, Situationen und von allem, das mich immer wieder hinunterzog, weg von mir selbst. Anfangs nannte ich das »Gesunden Egoismus«, aber heute weiß ich, das ist »Selbstliebe«.“
Das Ich oder das Ego ist eine Ansammlung teils bewußter, teils unbewußter Identifizierungen mit bestimmten Vorstellungen, Vorlieben, Abneigungen und Werturteilen, die dann unser Denken, Fühlen und Verhalten beeinflussen bzw. steuern, auch wenn das in der jeweiligen Situation oft nicht angemessen ist und nicht im Einklang steht mit unserer Seele. Der von Sigmund Freud eingeführte Begriff des Über-Ich bezeichnet jene innere Instanz, die dem Menschen Vorschriften macht, was er zu tun und zu lassen hat (die Gesamtheit aller „Du sollst“, „Du mußt“, „Du darfst nicht“, „Du sollst nicht“). Auf treffliche Weise bringt dieser Begriff beides zum Ausdruck, nämlich daß das Über-Ich eine dem Ich übergeordnete Instanz zu sein scheint (eine Art Gott) und daß es doch nur ein Teil des Ich, des Ego ist.
Wenn sich im Königreich der menschlichen Seele das Über-Ich auf den Thron gesetzt hat und sich als König aufspielt, so sitzt also das Ich, das Ego, auf dem Thron. Doch stets ist das Ich ein verblendeter Tyrann, es ist nicht der wahre König. In der mythologischen Symbolik trägt der falsche König die nach oben geschlossene Krone, die gleichnishaft zum Ausdruck bringt, das der Zugang zur Unendlichkeit des Himmels versperrt ist.
Das Ich (und mithin auch das Über-Ich) „existiert“ nur auf der Ebene des Denkens, also im Kopf, wie eine Seifenblase, also als Illusion, wirkt sich allerdings – solange wir in dieser Illusion befangen sind – auf alle anderen Ebenen aus.
Der wahre König ist das im Herzen beheimatete Fühl- und Einfühlungsvermögen der Seele, die Fähigkeit, jede Situation fühlend wahrzunehmen, Mitgefühl mit allen Wesen zu empfinden und allem mit bedingungsloser Liebe zu begegnen. Nur das Herz vermag die Grenzen zwischen Ich und Du oder zwischen Ich und Nicht-Ich aufzuheben. In der mythologischen Symbolik trägt der wahre König die nach oben konisch geöffnete Krone, die gleichnishaft die Offenheit für die Unendlichkeit des Himmels zum Ausdruck bringt.
Erst wenn diese Fähigkeit, die dem Herzen innewohnt, von allen Fesseln und Einschränkungen befreit ist, die Kopf und Denken dem Herzen auferlegt haben, kann sich die Liebe frei entfalten – sowohl als Selbstliebe wie auch als Nächstenliebe. Der wahre König sitzt wieder auf seinem Thron.