Geist oder Materie?

Ist Geist der Ursprung von allem, was da ist, oder ist alles aus der Materie hervorgegangen? Sollte die Antwort auf diese Frage nur von theoretischem Interesse sein oder hat sie möglicherweise doch praktische Auswirkungen auf unser Leben, darauf, wie wir es gestalten?

Kopf

Hausmann - Der Geist unserer Zeit

Alle alten Kulturen haben im Geist (lateinisch: spiritus) den Ursprung gesehen und waren insofern „spiritistisch“ (auch wenn dieser Begriff heute anders benutzt wird). Unsere abendländische Zivilisation ist wohl die einzige, die in der Materie (lateinisch: mater = Mutter) den Schoß sieht, aus dem alles hervorgegangen sein soll. Insofern ist sie zutiefst „materialistisch“. Es soll sogar Hirnforscher geben, die ernsthaft glauben, Bewußtsein sei nur ein Ergebnis der fortgeschrittenen Hirnentwicklung.

Geist und Materie stehen sich in diesen Weltanschauungen unversöhnlich gegenüber. Von Materie haben die meisten Menschen eine ungefähre Vorstellung: es kann sein, daß wir dabei an Tonerde oder Sand denken oder an noch etwas anderes, was man anfassen kann. Aber Geist? Hier sind die Vorstellungen ziemlich diffus. Manch einer denkt dabei an ein Gespenst, an den Geist eines Verstorbenen, der noch irgendwo herumgeistert. Andere fühlen sich an einen Menschen mit außergewöhnlich hochentwickeltem Denkvermögen (z.B. Albert Einstein) erinnert.

Im Verständnis der alten Kulturen wurde »Geist« immer als Hauch, als bewegte Luft oder als Rauch symbolisiert. Indem indianische Stammesoberhäupter in gemeinsamer Runde mit Feinden eine Friedenspfeife rauchen, symbolisieren sie in einem Ritual, wie Freunde und Feinde den »Geist« des Friedens einatmen, sich von ihm erfüllen und führen lassen.

Wenn es in der alttestamentlichen Schöpfungsgeschichte heißt, Gott habe den Menschen erschaffen, indem er einem Klumpen Erde Odem, also den Atem des Lebens, eingehaucht habe, so ist damit angedeutet, wie Materie von »Geist« durchdrungen ist.

„Da bildete Gott, der Herr, den Menschen aus Staub vom Erdboden und hauchte in seine Nase Atem des Lebens; so wurde der Mensch eine lebendige Seele.“ (1. Mose 2:7)

Vielleicht kann dieser Artikel zu größerer Klarheit beitragen, wenn Geist für uns überhaupt ein Thema ist. Andere Sprachen unterscheiden zwischen zwei verschiedenen Bedeutungen, die beide dem Geist-Begriff der deutschen Sprache eigen sind (lateinisch: spiritus / mens, davon abgeleitet englisch: spirit / mind). Die deutsche Sprache beläßt es bei dem einen Wort und läßt damit offen, welcher Geist jeweils gemeint ist oder „wes Geistes Kind” nun gerade spricht.

»Mens« kann als Geist in Tätigkeit verstanden werden, der den inneren und äußeren Phänomenen, den Erfahrungen in der Begrenzung von Raum und Zeit, zugewandt ist, und sie zu ordnen, zu verstehen, neu zu kombinieren und zu beeinflussen sucht. »Spiritus« kann als GEIST in vollkommener Ruhe verstanden werden, der sich nie auf irgendeine Erfahrung von Begrenzung einläßt – immer der Unermeßlichkeit und Unendlichkeit der ganzen Wirklichkeit verbunden: Leere, erfüllt von der Anwesenheit reinen Bewußtseins in Stille, tiefem Frieden, ewig neuer Freude und bedingungsloser Liebe.

Yogananda, einer der großen indischen Weisheitslehrer, benutzt das Wasser als Gleichnis, um die scheinbare Dualität von Geist und Materie in vollkommener Einheit aufzuheben. Die folgende schematische Darstellung greift dieses Gleichnis auf und wird im weiteren Text näher erläutert.

Wasser als Gas

unsichtbar,ohne Form oder Gestalt, ohne eigene Grenzen

Geist (Spiritus)

reines Bewußtsein (leer und frei von Phänomenen), unsichtbar, ohne Form oder Grenze, unvergänglich, ewig

Himmel

ewig = ehe Raum (mit der ersten Form) und Zeit (mit dem Wandel der Formen) entstehen

Wasser als Nebel oder Wolke

schwebend zwischen Himmel und Erde mit diffusen Grenzen

Geist (Mens)

Denken in Form von sich rasch wandelnden Gedanken, Vorstellungen oder Bildern; (noch) nicht im Irdischen manifestiert.

zwischen Himmel und Erde

schwebend – fortwährender Wandel der Formen und Gestalten in Raum und Zeit

Wasser als Fließ- oder Stehgewässer

dem tiefsten Punkt zustrebend

Geist (Mens)

Emotionen, Gefühle und Körperempfindungen als irdische Manifestation von Gedanken – Gefühlsfluß hin zur Tiefe

angekommen auf der Erde

beweglich und ohne Scheu, das Niedrigste zu berühren und sich mit ihm zu vermischen

Wasser als Eis

(fast) unbeweglich – kalt und hart

Geist (Mens)

Materie als dichteste Form der Manifestation mentaler Energie – Symptome als Not-Signale, die dem Unbegrenzten entstammen und in seine Richtung weisen

Erde

Raum und Zeit als (scheinbar einzige) Wirklichkeit – alles, was existiert, scheint in Gegenpole aufgespalten zu sein

Üblicherweise verbinden wir mit Wasser seine flüssige Eigenart, doch sind uns auch die beiden anderen Aggregatzustände des Wassers bekannt: gasförmig als Wasserdampf und fest als Eis.

Im gasförmigen Zustand ist Wasser für uns Menschen vollständig unsichtbar, ebenso unsichtbar wie »Geist«. Was wir als Nebel oder Dampfwolke sehen können, ist nicht Wasser im gasförmigen Zustand, sondern das bereits kondensierte Wasser, das – wieder in den flüssigen Zustand zurückgekehrt – in kleinsten Tröpfchen in der Luft schwebt. Wolken und Nebel werden damit zum Sinnbild für alles, was im Geist Form und Gestalt annimmt. Ursprung ist stets die Leere reinen Bewußtseins, also der Geist , aus diesem scheinbaren Nichts tauchen alle Erscheinungen auf: Geist (mens) als Gedanke, Vorstellung, Bild, als Phänomen der inneren Erfahrung.

Wie Kondenswasser-Tröpfchen, die im gasförmigen Wasser-Luft-Gemisch entstehen und dort schweben, so entsteht die ganze Schöpfung mit ihrer Vielfalt an Lebensformen im Geist (spirituelle Ebene) als Geist (mentale Ebene).

Wenn die in der Luft schwebenden Wassertröpfchen durch Ansammlung von immer mehr kondensiertem Wasser groß und schwer geworden sind, fallen sie schließlich als Niederschlag zu Boden, als Regen oder Tau. Es entstehen Pfützen und Seen, Bäche und Flüsse; erst jetzt wird die fließende Qualität des Wassers für uns Menschen erfahrbar.

Mentale Formen gewinnen für uns an Gewicht, wenn wir ihnen nicht nur Beachtung, sondern auch Glauben schenken. Indem wir Gedanken oder Vorstellungen für wahr halten, nur weil sie uns in den Sinn gekommen sind, setzen wir den Prozeß der Manifestation in irdischer Erfahrung in Gang. Gedanken, die sich zu manifestieren beginnen, zeigen sich zunächst in fließenden Gefühlen, dann auch in wechselnden Körperempfindungen, schließlich in immer dichter und fester werdenden Strukturen.

Wasser in seiner flüssigen Eigenart gefriert nur dann zu Eis, wenn die Temperatur den Gefrierpunkt unterschreitet. Wenn die Atmosphäre unseres Lebens und Erlebens frostig wird, wenn Wärme und Liebe in unserem Leben fehlen oder zu fehlen scheinen, erstarrt in uns ein Teil des Gefühlslebens. Dabei hängt das Klima unseres Lebens nicht davon ab, wie andere uns behandeln, sondern wie wir selbst mit den in uns auftauchenden Phänomenen umgehen, insbesondere mit unseren Gefühlen. Nichtbeachtung, Verurteilung oder Geringschätzung, Ablehnung oder Verdrängung sind Ausdruck innerer Kälte, die wir unseren Gefühlen entgegenbringen und in der sie erstarren. Erstarrte Gefühle manifestieren sich dann im fortgeschrittenen Stadium als Symptome in körperlicher Krankheit oder psychischer Störung, als vielfältige Formen verletzenden und zerstörerischen Verhaltens. Am Ende versteinert auch das Fühlzentrum selbst: das Herz. Nur das fühlfähige Herz hält die Verbindung zur ganzen Wirklichkeit aufrecht, auch wenn der denkende Geist sie schon verloren hat.

Zu Anfang ist der denkende Geist ein bzw. der »Lichtträger«, in dem alle möglichen Formen als Gedanke, Vorstellung oder Bild auftauchen und der damit das ganze Potential widerspiegelt: alles ist möglich, jede Form kann erschaffen werden und sich auf allen Ebenen manifestieren.

Erst wenn der denkende Geist sich mit der begrenzten Perspektive des vom Ganzen scheinbar abgetrennten Einzelwesens identifiziert, stürzt er ab in die Dualität von Subjekt und Objekt, von Licht und Dunkelheit, von Gut und Böse – und verwandelt sich zu Satan (hebräisch: der Widersacher), zum Geist, der stets verneint (Mephisto im Faust). Aus dem »Lichtträger« ist der »Ich-Geist« (das Ego) geworden, für den eine Kombination von Unbewußtheit und Arroganz das Markenzeichen ist. Dieser Absturz als Folge der Identifikation ist unvermeidlicher Teil der Entwicklung und geschieht, wenn das Kind lernt, „Ich“ zu sagen und damit der äußeren Erscheinungswelt zu folgen und Rechnung zu tragen.

Als Führer auf unserem Lebensweg muß der »Ich-Geist« scheitern, da er aufgrund seiner begrenzten Perspektive nicht in der Lage ist, die ganze Wirklichkeit zu erfassen. Nur fortwährende Beaufsichtigung (nicht lenkende Kontrolle!) des denkenden Geistes, also Bewußtheit aller Denkvorgänge, kann uns aus der Enge des »Ich-Geistes« wieder befreien. Allein diese wache Aufmerksamkeit, mit der alle Denkvorgänge als solche erkannt werden, verhindert, daß die gesamte Aufmerksamkeit von den Gedankengängen in den Bann gezogen wird. Schrittweise läßt das Gewahrsein den denkenden Geist wieder zum Lichtträger werden, der das Licht der Bewußtheit demütig dorthin trägt, wo es gebraucht wird, um die Dunkelheit des Unbewußten zu vertreiben.

Fazit: Ob gasförmig, flüssig oder fest – immer ist und bleibt es Wasser. Was auch immer wir erleben auf materieller, physischer, emotionaler oder mentaler Ebene, immer ist es Ausdruck von »Geist«, von alles umfassender Intelligenz – auch dann, wenn wir es nicht verstehen.