Hellinger, Bert

Nicht am Wissen liegt es, wenn einer auf dem Wege stehen bleibt und nicht mehr weiter will. Denn er sucht Sicherheit, wo Mut verlangt wird, und Freiheit, wo das Richtige ihm keine Wahl mehr läßt. Und so dreht er sich im Kreis.

Die Mitte fühlt sich leicht an, S.101
Stern

Das vom Ich gesuchte Glück läuft uns leicht davon. Wir wachsen, wenn es geht. Das Glück der Seele kommt und bleibt. Es wächst mit uns.

 
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Das spezifische seelische Gewicht  ist gleich der Summe des Gewagten.

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Gut und Böse

Wenn sich jemand über etwas Schlimmes entrüstet, dann scheint er auf der Seite des Guten zu stehen und gegen das Böse, auf der Seite des Rechts und gegen das Unrecht. Er tritt zwischen die Täter und Opfer, um weiterem Schlimmen zu wehren. Doch er könnte auch mit Liebe zwischen sie treten, und das sicherlich besser. Was also will der Entrüstete? Und was macht er wirklich? Der Entrüstete verhält sich, als sei er ein Opfer, ohne es selber zu sein. Er nimmt für sich das Recht in Anspruch, von den Tätern Genugtuung zu fordern, ohne daß ihm selber ein Unrecht geschah. Er macht sich zum Anwalt der Opfer, als hätten sie ihm das Recht übertragen, sie zu vertreten, und läßt sie dann rechtlos zurück. Und was macht der Entrüstete mit diesem Anspruch? Er nimmt sich die Freiheit, den Tätern Böses zu tun ohne die Furcht vor schlimmen persönlichen Folgen; denn da sein böses Tun im Licht des Guten erscheint, braucht er keine Strafe zu fürchten. Damit die Entrüstung gerechtfertigt bleibt, dramatisiert der Entrüstete sowohl das erlittene Unrecht als auch die Folgen der Schuld. Er schüchtert die Opfer ein, das Unrecht im gleichen schlimmen Licht zu sehen wie er. Sonst machen auch sie sich in seinen Augen verdächtig und müssen fürchten, selber Opfer seiner Entrüstung zu werden, so als wären sie Täter. Im Angesicht eines Entrüsteten können die Opfer ihr Leid und die Täter die Folgen der Schuld nur schwer hinter sich lassen. Bliebe es den Opfern und Tätern selbst überlassen, den Ausgleich und die Versöhnung zu suchen, könnten sie sich gegenseitig einen neuen Anfang gestatten. Doch vor Entrüsteten gelingt das nur schwer, denn Entrüstete sind in der Regel nicht eher befriedigt, bis sie die Täter vernichtet und gedemütigt haben, selbst wenn es die Leiden der Opfer verschlimmert. Die Entrüstung ist in erster Linie moralisch. Das heißt, es geht hier nicht um Hilfe für jemanden, sondern um die Durchsetzung eines Anspruchs, als dessen Vollstrecker sich der Entrüstete darstellt und fühlt. Daher kennt er im Gegensatz zu jemandem, der liebt, kein Mitleid und kein Maß.

Verdichtetes, S.51-52
Stern

Wie Jakob, als er den Jabbok überquerte, den Engel, der mit ihm rang, nicht lassen konnte, bis er von ihm gesegnet war, so können die Nachkommen der Täter und Opfer – und in einem weiteren Sinne auch wir – diese Toten nicht eher lassen, bis sie durch unseren Schmerz geehrt und wir durch sie gesegnet sind.

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Bewegungen auf Frieden hin – Wege zur Versöhnung

Vortrag auf dem Kurs in Athen im September 2002

Die wichtigsten angesprochenen Themen

Erst nach dem Konflikt kommt die Versöhnung und der Friede Umgang mit Ausgegrenztem, z.B. persönlicher Schuld Die Funktion des Gewissens und die Projektion auf Gott Himmel und Hölle als Schöpfungen unseres Gewissens Unschuld und Enge und das Annehmen unseres Schattens Die positiven Folgen des Verlusts der Unschuld Die Folgen der Ablehnung der Eltern Wege zur Verbesserung des persönlichen Grundgefühls Zustimmung zur Gleichheit aller Menschen im Strom des Lebens Wie alles Kraft gewinnt, was man in sich ablehnt Wenn die Nachkommen der Opfer auf die Täter böse sind, werden sie Täter Der eigentliche Weg zur Versöhnung

Es ist ein besonderes Thema, das mir heute vorgelegt wurde: „Bewegungen auf Frieden hin – Wege zur Versöhnung“. Da ich heute am Jahrestag des Angriffs auf das World Trade Center dazu spreche, ergeben sich natürlich daraus auch Bezüge zur Gegenwart. Doch ich beginne mit dem ganz Einfachen: Was führt zum Frieden und zur Versöhnung in der eigenen Seele?

Die menschliche Entwicklung, das Wachstum, ist möglich, wenn wir etwas in uns hinein nehmen, das wir vorher ausgeklammert haben. Bevor wir es in uns hinein nehmen können, gibt es einen Konflikt. Erst nach dem Konflikt kommt die Versöhnung und der Friede. Heraklit, ein alter Freund von mir, hat das in einem Satz ausgedrückt in drei Worten. Der Satz heißt auf Griechisch: Panton pater polemos. Der Krieg ist der Vater aller Dinge. Der Krieg ist auch der Vater des Friedens. Ohne Krieg, kein Friede.

Wie wirkt sich das nun in der Seele aus? Freud, der Begründer der Psychotherapie moderner Art, hat beobachtet, dass der Einzelne nur wachsen kann, wenn er etwas, das er in seiner Seele ausgeklammert hat, integriert. Vieles wird von uns abgelehnt, obwohl wir spüren, dass es zu uns gehört. Zum Beispiel eine persönliche Schuld.

Wie kommt es nun, dass wir einen solch wichtigen Teil von uns ablehnen? Das hängt zusammen mit dem Gewissen. Nur über das Gewissen können wir Gut und Böse in diesem Sinn unterscheiden. Aber, ist das, was das Gewissen gut nennt, wirklich gut? Ich bringe ein einfaches Beispiel. Wenn jemand sagt: „Ich muss meinem Gewissen folgen“, was macht er dann? Gewöhnlich tut er einem anderen etwas an. Habt ihr schon einmal gehört, dass sich jemand auf sein Gewissen berufen hat, wenn er Gutes tut? Nur wenn er mit Hilfe des Gewissens die Rechtfertigung sucht, einem anderen etwas anzutun, beruft er sich auf sein Gewissen. Wir müssen also hier sehr vorsichtig sein.

Nun habe ich beobachtet, dass das Gewissen vor allem eine Funktion hat: Es bindet uns an unsere Familie und an unsere Gruppe. Wir haben ein gutes Gewissen, wenn wir uns so verhalten, dass wir uns sicher sind, wir dürfen dazugehören. Wenn wir gegen die Regeln unserer Familie oder Gruppe verstoßen, haben wir ein schlechtes Gewissen. Wir fühlen uns dann schuldig.

Aber was heißt das hier genau, dass wir uns hier schuldig fühlen? Wir fühlen, dass wir das Recht auf Zugehörigkeit gefährdet oder sogar verloren haben. Also das Gewissen wacht darüber, dass wir alles tun, um zur Familie zu gehören, und es verbietet alles, was uns von unserer Familie wegbringen könnte. Zugleich trennt uns das Gewissen von allen anderen, die anders sind. Wir sind die Richtigen, meine Familie ist die richtige, meine Religion ist die richtige, meine Rasse ist die richtige, meine Kultur ist die richtige, ich bin besser. Und was noch schlimmer ist: Ich bin auserwählt.

Denn die Unterscheidung, die wir treffen, was gut und richtig ist und böse und falsch, projizieren wir auf Gott. Wir sagen dann, dass er sich genauso verhält wie wir. Wenn wir uns so verhalten, wie gesagt wird, dass er es will, können wir dazugehören. Wenn wir uns anders verhalten, werden wir verworfen. Himmel und Hölle sind Schöpfungen unseres Gewissens und sie werden auf Gott übertragen.

Wenn wir nun in uns etwas entdecken, was nicht mit den Regeln unserer Familie übereinstimmt, obwohl es vielleicht sogar gut ist, lehnen wir es ab. Damit werden wir auf der einen Seite unschuldig und auf der anderen Seite eng. Unschuldige können nicht wachsen. Sie bleiben stehen, sie bleiben Kinder. Sie bleiben eingeengt in die Fesseln ihres Gewissens.

Wenn wir nun unseren Schatten annehmen als ebenfalls gültig und gut, zum Beispiel wenn wir in der christlichen Religion der Sexualität zustimmen, wie sie ist, fühlen wir uns schuldig. Wenn wir den Schatten integrieren, werden wir größer, weiter, menschlicher, toleranter. Aber, wir verlieren dadurch unsere Unschuld.

Ich habe das mal in einer Geschichte beschrieben. Da setzt sich einer hin und schaut nach vorne. Plötzlich sieht er sich in einem kleinen weißen Kreis. Der Kreis ist eng, er kann sich kaum darin bewegen. Und um den kleinen weißen Kreis lodert eine schwarze Schattenflamme. Er schaut hin und er schaut weg, schaut hin und schaut weg. Nach drei Tagen öffnet sich der Kreis. Die riesige schwarze Schattenflamme schlägt hinein in den Kreis. Der Kreis wird groß, die Person kann sich endlich strecken. Doch jetzt ist der Kreis grau.

Das ist Wachstum über die Unschuld hinaus. Nun geht das aber weiter. Auch in unserer Familie lehnen wir manchmal etwas ab. Zum Beispiel, allerdings nicht in Griechenland, aber in anderen Ländern, lehnen viele ihre Eltern ab, oder einen ihrer Eltern. Sie sagen dann, sie sagen das wirklich: „Ich bin besser.“

Was geschieht in der Seele von solchen Menschen? Man kann es beobachten in der Psychotherapie. Sie sind erstens eng, und zweitens oft depressiv. Depression heißt nämlich, dass sich jemand leer fühlt. Ihm fehlt etwas, nämlich einer der Eltern. Wenn er ihn in seine Seele nimmt, wird er reich.

Ich war mal in Chikago bei Psychotherapeuten als Gast. Der Therapeut hat gesagt, er hat festgestellt, dass sich jeder auf einem gewissen Grundgefühl einpendelt. In diesem Grundgefühl fühlt er sich am wohlsten. Dieses Grundgefühl kann negativ sein oder positiv. Er hat vorgeschlagen, dass sich jeder einmal eine Skala vorstellt von minus hundert über null zu plus hundert. Jetzt kann jeder bei sich überprüfen, wo er ist auf dieser Skala. Ist er auf der negativen Seite und wie tief. Oder ist er auf der positiven Seite wie hoch. Wenn ihr andere Menschen anschaut, seht ihr sofort, wo sie sind auf dieser Skala. Mit einiger Übung kann man das ganz genau feststellen.

Dieser Therapeut hat gesagt, man kann das niemals ändern, es ist immer gleich. Ich habe herausgefunden, wie man das ändern kann. Soll ich euch sagen, wie? Das sage ich euch nicht. Ich mache mit euch eine Übung, in der Ihr das machen könnt. Mit Hilfe dieser Übung könnt ihr vielleicht auf dieser Skala bis zu 75 Punkten nach oben gehen. Soll ich das jetzt mit euch machen?

Okay, dann schließt mal die Augen und legt weg, was ihr in den Händen habt. Kommt jetzt zur Ruhe und sammelt euch in eurer Mitte. Stellt euch vor, ihr steht vor euren Eltern als Kind. Ihr schaut zu ihnen hinauf. Ihr seht hinter ihnen deren Eltern, und hinter denen, deren Eltern, und hinter diesen, deren Eltern, und so weiter durch all die vielen Generationen, bis zum Urgrund des Lebens. Das Leben fließt durch alle diese Generationen. Niemand kann ihm etwas hinzufügen oder wegnehmen. Und so, von weit her, erreicht euch das Leben durch diese Eltern.

Es spielt überhaupt keine Rolle, wie sie sind. In der Weitergabe des Lebens sind alle Eltern vollkommen. Durch alle diese vielen Generationen haben sie es richtig gemacht. Keiner war besser, keiner war schlechter. So kommt das Leben zu euch in seiner Fülle durch diese besondere Mutter, durch diesen besonderen Vater.

Und nun öffnet euer Herz. Macht es weit und nehmt das Leben von diesen Eltern in die Seele und sagt: „Danke. Ihr seid groß, ich bin klein. Ihr gebt, ich nehme. Ich nehme alles, genauso wie es von euch zu mir kommt.“

Dann steht ihr vielleicht auf, lehnt euch mit dem Rücken an eure Eltern, werdet groß wie sie und schaut nach vorne: zu den eigenen Kindern, zu den eigenen Enkeln, zu den vielen Generationen, die noch kommen. Und ihr wisst euch im Einklang mit allen, durch die das Leben euch erreicht hat und mit allen, auf die das Leben durch euch weiterfließt. Und so seid ihr im Strom des Lebens allen gleich.

Ich möchte noch etwas hinzufügen. Jeder, der das Leben von diesen besonderen Eltern bekommt, bekommt es in einer bestimmten Weise, die etwas noch hinzufügt. Denn diese Eltern gehören zu einer besonderen Gruppe, zu einer besonderen Kultur, zu einer besonderen Rasse, zu einer besonderen Religion. Jeder kann das Leben nur haben, wenn er das Leben nimmt mit dem, was hier in dieser Familie dazu gehört. Indem er das Leben von diesen Eltern nimmt, nimmt er auch deren Glauben, deren Sprache, deren Schicksal, alles, was da dazugehört. Wenn er dem Leben zustimmt von diesen Eltern, stimmt er all dem auch zu.

Nun stellt euch vor, neben euch ist ein anderen Kind. Es schaut seine Eltern an, seine Ahnen, nimmt das Leben von diesen seinen Eltern, sagt: „Ihr seid groß, und ich bin klein.“ Und er nimmt das Leben mit allem, was zu diesen Eltern auch dazugehört, mit deren Glauben, deren Kultur, deren Sprache, deren Religion. Im Nehmen des Lebens, in diesem elementaren Vollzug, ist er uns völlig gleich. Er kann nicht anders sein, als er ist, so wie wir nicht anders sein können, als wir sind.

Wenn wir ihm später begegnen, zum Beispiel, wenn ein Israeli einem Palästinenser begegnet, oder ein Amerikaner dem Bin Laden, was ist hier gemäß? Und zwar von beiden Seiten? Was passiert, wenn wir anerkennen, dass der andere, obwohl verschieden, mir gleich ist als Mensch? Wenn ich jetzt nicht nur auf meine Familie schaue, auf meine Gruppe, meinen Glauben, meine Sprache, sondern auch auf seine und anerkenne, dass das andere, obwohl verschieden, meinem ebenbürtig ist, dass es Anerkennung verdient? Wenn ich auch dem anderen, wie er ist, mit allem was zu ihm gehört, einen Platz in meinem Herzen gebe? Was passiert?

Ich gebe meine Überlegenheit auf, vielleicht meinen Glauben an meine Überlegenheit, gebe dem anderen einen gleichwertigen Platz in meinem Herzen. Ich werde dadurch reicher, menschlicher. Ich verliere aber auf gewisse Weise meine ausschließliche Zugehörigkeit zu meiner Gruppe, gebe etwas von meiner Sicherheit auf und wachse.

Ich möchte in diesem Zusammenhang noch etwas besonders erwähnen. Man kann sehen, bei den Familienaufstellungen zum Beispiel, dass alles, was ich ablehne, in mir Kraft gewinnt. Je mehr ich etwas ablehne, desto mehr werde ich ihm gleich. Die Tochter, die ihre Mutter ablehnt, wird ihr sehr bald gleich.

Nun, mit Bezug auf Täter und Opfer: Wenn die Nachkommen der Opfer auf die Täter böse sind, werden sie Täter. In ihrer Haltung und in ihrem Gefühl werden sie Täter. Wenn ihr seht, was im Nahen Osten passiert, wer ist der SS am ähnlichsten geworden? Nicht nur im Gefühl der Überlegenheit, auch im konkreten Handeln? Da seht ihr, was passiert, wenn wir die Täter ablehnen.

Ich spreche hier ja im Goethe Institut. Dann möchte ich etwas über die deutsche Situation in dieser Hinsicht sagen. Stellt euch vor, wenn die Deutschen sagen würden: „Hitler ist einer von uns, ein Mensch wie wir. Wir nehmen ihn auf als einen von uns mit Mitleid. Und nicht nur ihn, sondern alle, die ihm gefolgt sind.“ Wenn wir auf einmal anerkennen, das auch sie im Grunde nur ihrem Gewissen gefolgt sind und im Gefolge ihres Gewissens sich als Opfer gefühlt haben. Und dass sie ihre furchtbaren Taten im Grunde mit gutem Gewissen vollbracht haben. Wenn wir dann zugleich auf all die Opfer schauen, die das Dritte Reich hinterlassen hat, die umgebracht wurden, und wenn wir ihnen auch einen Platz in unserem Herzen geben, und wenn wir am Ende die Täter und die Opfer zusammen sehen als zusammengehörig, wenn wir mit ihnen zusammen trauern um das, was geschehen ist, dann hört jede Überlegenheit und jede Angst auf.

Was würde in den Seelen der Deutschen geschehen, wenn ihnen das gelänge. Und wie wären sie dann für andere Völker? Welche Kraft ist dann freigesetzt? Das ist der eigentliche Weg zur Versöhnung.

 

Bert Hellinger, Psychoanalytiker und Familientherapeut (1925 - 2019)

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