Jäger, Willigis
Kontemplation, was ist das?
Es wohnt eine tiefe Sehnsucht im Menschen, die das Göttliche selber ist. Gott drängt in uns zur Entfaltung und zum Erwachen. In uns Menschen stellt sich das Erwachen des Göttlichen dar als Verlangen nach Geborgenheit, Sicherheit und Heimat. Es ist die Sehnsucht, heim zu kommen, den Platz zu finden, wo alles gut ist, wo man geliebt und angenommen ist. Der Mensch erfährt aber sehr bald im Leben, daß kein Mensch dem Menschen diese letzte Sicherheit geben kann, auch nicht der liebste. Es bleibt diese unüberbrückbare Trennung, diese Heimatlosigkeit, bis er sein wahres Selbst gefunden hat, besser, bis sein wahres Selbst durch alle Verkrustungen und Fehlentwicklungen hindurchbrechen kann. Menschen machen sich also auf den Weg zu Gott, weil sie diese tiefste Sehnsucht in sich tragen, die letztlich die Sehnsucht Gottes nach sich selber ist. Die Religionen haben uns Wege gezeigt, um in diese Erfahrung zu gelangen. In der christlichen Tradition ist es die Kontemplation. Ein Weg, der in die tieferen Schichten unseres Bewußtseins führt. Jesus nannte diesen Ort Reich Gottes oder Leben Gottes. Der mystische Weg der Kontemplation möchte uns dorthin führen.
Das EINE ist meine wahre Natur und die Natur aller Wesen. ES ist zeitlos und unwandelbar, ES entfaltet sich in der Zeit. ES offenbart sich als diese Form, die ich bin.
ES entstand nicht bei meiner Geburt, ES vergeht nicht im Tod. ES ist weder gut noch böse und mit nichts vergleichbar. ES ist wie der Ozean, der unverändert bleibt, auch wenn er Millionen von Wellen wirft.
Dieses EINE ist der Urgrund aller Dinge. ES ist unendlich. ES hat nie angefangen und ES hört niemals auf, denn ES kennt keine Zeit. ES ist gleichsam der, der hinter allen Handlungen steht. Als dieser »Zeuge« ist ES mein wahres Wesen.
ES übersteigt alle Theologie, Philosophie, Theodizee und Metaphysik. ES hat nichts mit Glauben zu tun, ES lässt sich nur erfahren. ES ist das grenzenlose, absolute Jetzt.
Aus diesem absoluten Jetzt steigen die vielen Formen und Wesen des Universums auf wie aus einem unendlich tiefen, nie versiegenden Brunnen.
ES ist die Ursache der Ursache der Ursache, aber nicht im Sinn von Ursache und Wirkung. ES ist das »Nichts«, das sich immer wieder neu ausformt. Alle Dinge und alle Lebewesen – und auch wir Menschen – bestehen aus diesem reinen, ursprünglichen Nichts.
Wir sind eine Form des Nichts, so wie ein goldener Ring die Form des Goldes ist. Der Ring ist nicht das Gold und das Gold ist nicht der Ring – aber als Ring aus Gold sind beide eins. Das Gold gibt dem Ring die Existenz, bleibt aber davon unberührt.
So bestehen Menschen, Tiere, Bäume, Blumen, Steine, Wasser, Berge, Planeten, Monde, Sonnen, Spiralnebel und wir selbst, unsere Gefühle, Gedanken und Intentionen aus dem EINEN. Das EINE ist gleichsam unser Familienname. Wir sind alle von dieser »einen Familie«. ES ist der Nenner, an dem alle Zähler partizipieren.
Da wir dieses EINE sind, sind wir auch nicht entstanden und werden nicht vergehen. Unser wahres Wesen ist ungeboren und unsterblich. ES war immer schon da – nur die Form ändert sich in jedem Augenblick! So wie die Wellen immer ihre Form verändern und doch der gleiche Ozean bleiben. ES ist nicht immer die gleiche Welle, aber immer das gleiche Wasser. Das EINE bleibt immer gleich und wandelt sich nie.
Die äußere Form wird sterben, aber was wir zutiefst sind ist unvergänglich und unzerstörbar. ES entsteht nicht bei unserer Geburt. ES grenzt sich nur ein in diese Form. ES geht im Tod nicht unter, ES verliert nur diese Form.
Auch wenn es Menschen gibt, die Erinnerungen haben, als hätten sie schon einmal oder gar mehrmals gelebt, wäre ES immer nur dieser Urgrund, der die vielen Erfahrungen macht. Die äußere Form wird sterben, aber was wir wirklich sind kennt keine Zeit.
Wir tragen das Gesicht des EINEN. ES lässt sich auch hinter dem Bösen nicht verbergen. Wenn Du im EINEN ankommst, wirst du ES wiedererkennen. ES ist dir urvertraut. Dann wirst du wissen, dass ES immer dasselbe war, schon vor deiner Geburt, vor der Geburt deiner Eltern, vor ewigen Zeiten und am Ende der Welt.
Die Welt mag untergehen, doch auch als Untergang manifestiert sich das EINE. Untergang ist nie Untergang, sondern Fortgang auf einer anderen Ebene und Neubeginn.
In der tiefen spirituellen Erfahrung werden wir gewahr, dass ES selbst ganz still ist und nur die äußeren Formen kommen und gehen. Dann endlich erkennen wir, dass wir uns immer schon gekannt haben und entdecken, dass wir wiedergefunden haben, was wir immer schon gewusst und nur vergessen hatten. ES gibt nur das zeitlose Jetzt.
aus dem Jahr 2013
Pater Willigis Jäger, Benediktinermönch und Zen-Meister (1925 - 2020)
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