Jahrtausend-Wende – ein Rückblick

Eine Jahrtausend-Wende mitzuerleben, ist in gewisser Hinsicht ein Privileg und eine Herausforderung, seine symbolische Bedeutung zu betrachten. Auch wenn dieses Ereig-nis nun schon wieder eineinhalb Jahrzehnte hinter uns liegt, lohnt es sich, nochmal dahin zu schauen, zumal es in den öffentlichen Medien kaum eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Thema gab.

Obwohl das zweite Jahrtausend erst mit dem 31.12. des Jahres 2000 zu Ende ging, also erst dann der Wechsel ins dritte Jahrtausend stattfand, war die symbolische Bedeutung der Jahrtausend-Wende mit dem Jahreswechsel 1999/2000 verbunden, mit dem Eintritt in das zweitausendste Jahr nach Christi Geburt.

Oberflächlich betrachtet war dieser Jahreswechsel zunächst einmal ein kommerzieller Höhepunkt, an dem viele „Trittbrettfahrer“ viel Geld zu verdienen hofften. Doch warum war dieser Jahres-Zahlen-Wechsel so bedeutungsschwer, daß es kaum möglich war, ihn zu ignorieren?

Wie so oft hatte sich der Kommerz an die Ausstrahlungskraft einer Idee angehängt, ähnlich wie bei der olympischen Idee. Die Idee eines Jahrtausends konfrontiert uns mit dem Überindividuellen, mit dem, was größer ist als das Leben des einzelnen Menschen. Während ein Jahrhundert noch vom Leben einiger weniger einzelner Menschen überspannt werden kann, ist das bei einem Jahrtausend völlig ausgeschlossen.

Es fällt auf, daß sich wie über Nacht ein neuer Sprachgebrauch verbreitet hatte: In den

Medien, im gesamten öffentlichen Raum wurde in einmütiger Sprachregelung vom „Millennium“ gesprochen und der Begriff Jahrtausend vermieden. Der Gebrauch von Fremdwörtern war schon immer dazu geeignet, es zu vermeiden, sich in der seelischen Tiefe berühren zulassen, die symbolische Bedeutung wird aus dem Bewußtsein verdrängt.

Mit der Jahrtausend-Wende werden Ende und Anfang einer Epoche markiert, eine Epoche in der Entwicklung des menschlichen Bewußtseins. Die zu Ende gehende Epoche hat durch die Dominanz der christlich-abendländischen Kultur zur Vereinheitlichung und zur globalen Verbreitung einer bestimmten Bewußtseinsform in der ganzen Menschheit geführt. Der Übergang von der einen zu der anderen Epoche ist kein von der Natur vorgegebener Wechsel, es ist ein Wechsel, der nur in der Vorstellungswelt der Menschen existiert. Hintergrund für die Jahrtausend-Wende ist allerdings ein mehrere Jahrzehnte dauernder Übergang, der sich auch am Sternenhimmel vollzieht: der Eintritt in das sogenannte Wassermann-Zeitalter.

Der im jetzigen Sprachgebrauch eher vermiedene Begriff des „Jahrtausends“ oder der „Jahrtausend-Wende“ enthält noch die Schwingung mythischer Symbolik. Die Nazi-Propaganda verstand es zum Teil meisterhaft, auf der Klaviatur der mythisch-symbolischen Seelenebene zu spielen, und so benutzten die Nazis in ihrer Propaganda auch den Begriff des „tausendjährigen Reiches“. Das römische Imperium wie auch das „Heilige römische Reich deutscher Nation“ sind die zwei uns vertrauten Beispiele tausendjähriger Reiche. Doch was berechtigt uns eigentlich dazu, sowohl im 7. Jahrhundert (753 Gründung Roms) vor wie auch im 3. Jahrhundert nach Christi Geburt von ein und demselben römischen Imperium zu sprechen oder von ein und derselben deutschen Nation zu Zeiten Karls des Großen und zu Zeiten Goethes?

Es sind andere Menschen, andere Techniken, auch die Sprache hat sich gewandelt, auf der Ebene der konkreten Wirklichkeit ist fast alles verändert, und doch fühlen sich die Menschen als Römer, als Vasallen oder Feinde Roms bzw. als Deutsche.

Was fast tausend Jahre überdauert hat, scheint die identitätsstiftende Idee (und das darauf aufgebaute Ideengebäude) zu sein, mit der die Menschen identifiziert sind bzw. waren.

Die Jahrtausend-Wende markiert in dieser Sicht einen sowohl mit Angst wie auch mit Hoffnung erlebten Umbruch in der zentralen identitätsstiftenden Idee: einerseits verfallen die bisher gültigen Werte unserer Kultur, der Fortschrittsglaube erreicht einen Tiefpunkt, andererseits keimt massenhaft eine neue Idee, die Idee eines „transrationalen und transpersonalen“ Bewußtseins.

Die tiefere Bedeutung dieser Jahrtausend-Wende läßt sich jedoch nicht ausloten, ohne den Dreh- und Angelpunkt unserer Zeitrechnung ins Auge zu fassen: die Geburt Christi.

Auf der symbolischen Ebene ist das der Augenblick, in dem die in der Menschenseele angelegte Fähigkeit zu grenzenloser Liebe das Licht dieser Welt erblickt, also konkret wird.

Wenn wir die Symbolik der ersten Jahrtausend-Wende nach Christi Geburt betrachten, fällt auf, daß das Kreuz sich erst nach der Jahrtausend-Wende mehr und mehr als Symbol des Christentums durchgesetzt hat. In den früheren, im ersten Jahrtausend üblichen Darstellungen stand nicht der gekreuzigte Christus im Vordergrund, sondern der über den Tod triumphierende auferstandene Christus. Auch die Kreuzzüge sind ein Phänomen des beginnenden zweiten Jahrtausends. Das Kreuz ist schon in vorchristlicher Zeit ein Symbol der voll entfalteten Polarität (Mann und Frau, Tag und Nacht, Leben und Tod, usw.).

Das zweite Jahrtausend steht symbolisch unter dem Zeichen des Kreuzes, die aufeinander bezogenen Gegensätze von Natur und Technik, von Moral und Trieb erzeugen ein starkes Spannungsfeld und eine Dynamik, die die Entwicklung immer mehr beschleunigt. Am Ende des zweiten Jahrtausends ist auch das Kreuz als Symbol des Christentums in der bisherigen Form am Ende. Den Kirchen laufen ihre Mitglieder davon, weil sie das starke religiöse Bedürfnis der Menschen nicht mehr zu stillen vermögen. Viele Menschen suchen die religiöse Erfahrung jenseits von Dogmen, Geboten und Verboten.

In der Zahlen-Mystik entspricht dem Kreuz die Zahl 4, die Zahl der voll entfalteten Polarität. Auf die Zahl 4 folgt die Zahl 5, die Zahl der „quinta Essentia“, der Quintessenz: der Punkt, auf den es beim Kreuz ankommt; der Punkt, auf den es in der Welt der Gegensätze ankommt; der Mittelpunkt, der die Ausgewogenheit zwischen den Gegensätzen herzustellen vermag und der in der mystischen Tradition unserer Kultur auch als der Christus-Punkt bezeichnet wird.

So geht es an der Wende zum dritten Jahrtausend darum, daß jeder einzelne Mensch diesen Punkt in sich findet, von dem aus die Versöhnung der Gegensätze möglich ist. Das zentrale Thema des neu beginnenden Jahrtausends ist nicht mehr die weitere und immer schnellere Entfaltung der Polarität (technischer Fortschritt), sondern die innere Erfahrung jedes einzelnen Menschen, in der die Mitte gesucht und gefunden werden kann.

Als einzelner Mensch bin ich zum großen Teil unbewußt identifiziert mit grundlegenden Rollen, die gleichermaßen geistige Orientierungen wie auch Begrenzungen darstellen:

Ich bin ein menschliches Wesen. (Identität als Mensch)

Ich bin ein körperliches Wesen. (Körperidentität)

Ich bin ein männliches/weibliches Wesen. (Geschlechtliche Identität)

Ich bin ein Wesen mit einer bestimmten Muttersprache. (Sprachliche Identität) usw.

Die in unserem Kontext bedeutsame Identifizierung könnte in allgemeinster Form etwa lauten:

Ich bin ein Bürger dieser Welt. (Weltliche Identität oder Welt-Ich)

Während die alte Weltordnung zusammenbricht erleben wir im Übergang von der alten zu einer neuen Weltordnung – begleitet von Angst und Unsicherheit – einen zeitweiligen Identitätsverlust bzw. eine Identitätskrise.

Transformation und Lösung in dieser Krise drücken sich in einem Satz aus, den Jesus Christus so formuliert hat:

Ich bin (ein Bürger) in dieser Welt, nicht von dieser Welt. (Transformierte weltliche Identität oder Wesens-Ich)

Wir finden uns vor die Herausforderung gestellt, aufzuspüren und zu empfinden, was uns von innen aufrechterhält, wenn alles andere wegfällt.