Leben und Sterben

Odilon Redon, Die geschlossenen Augen, 1890

zwischen Selbstbestimmung und Ich-Kontrolle

 

 

 

 

 

 

Leonardo da Vinci, Krieger, 1503

In dem inzwischen auch vom Bundesverfassungsgericht (BVG) übernommenen Verständnis von Selbstbestimmung (vgl das Urteil vom 26. Februar 2020, wonach jeder Mensch ein Recht darauf habe, den Zeitpunkt seines Todes selbst zu bestimmen) wird der Mensch auf seine sichtbare Erscheinungsform (d.h. seine Persönlichkeit) reduziert. Die transzendente Dimension menschlichen Seins – auch Wesenskern oder wahres Selbst genannt – bleibt völlig unberücksichtigt. Selbstbestimmung wird mit der eigenmächtigen Kontrolle durch ein in jeder Hinsicht begrenztes Ich-Bewußtsein verwechselt. Sowohl die Persönlichkeitsentwicklung wie auch das Ich-Bewußtsein unterliegen – wie wir heute wissen – einem Lernprozeß, der auch als Konditionierung beschrieben wird.

Der von jeder Konditionierung unberührte Wesenskern ist es, der dem Menschen seine Würde verleiht und ihm die Möglichkeit zur Befreiung eröffnet. Grundsätzlich kann sich je-der Mensch aus dem Zustand der Befangenheit – des Gefangenseins in Reiz-Reaktions-Mustern – schrittweise befreien, indem er lernt, die eigenen Prägungen zu erkennen, zu durchschauen und schließlich die alten Muster im Denken, Fühlen und Verhalten hinter sich zu lassen.

Nun hat sich also auch das höchste deutsche Gericht in seiner Rechtsauffassung das materialistische Welt- und Menschenbild zu eigen gemacht, das in unserer Gesellschaft und Kultur schon lange vorherrscht. Auch schon in früheren Zeitaltern war es so, daß die meisten Menschen von verschiedenen Ängsten hin- und hergerissen wurden und den Wechselwinden des Zeitgeistes ausgeliefert waren, Doch ist der Verlust jeglicher Rückbindung an die ewige Wahrheit grenzenlosen Seins wohl in keiner der früheren Zivilisationen und Kulturen so weitgehend gewesen wie in unserer heutigen „Kultur“. Ja, schon im Altertum waren die Menschen leicht beeinflußbar, für Panikmache empfänglich, gingen den schon damals bekannten Methoden der Herrschaft* nur allzu schnell auf den Leim: Feindbilder (und als Folge Krieg) sowie Brot und Spiele. Die neue Qualität betrifft also nur den kulturellen „Überbau“, in welchem der Herrschaftsanspruch des menschlichen Ich-Geistes nicht mehr als Hybris erkannt, sondern für gerechtfertigt gehalten wird.

* divide et impera, panem et circenses

Alle Bereiche des Lebens sollen der Ich-Kontrolle, dem Diktat des menschlichen Ich-Bewußtseins unterworfen werden. Am Ende des Lebens, also beim Sterben, ebenso wie am Anfang, bei Zeugung und Geburt, wo künstliche Befruchtung oder vom Arzt kontrollierte Einleitung der Geburt inzwischen genauso „selbstverständlich“ geworden sind wie die vielen künstlichen Eingriffe zwischen Zeugung und Tod (z.B. Organtransplantation usw.). Nein, das ist wahrhaftig nicht „selbstverständlich“, sondern nur „ichverständlich“ !

Damit die Hybris erkannt und durchschaut werden kann, diese Anmaßung gottähnlicher Macht über Leben und Tod, ist es offenbar notwendig, daß dem menschlichen Ich-Bewußtsein immer wieder die Grenzen aufgezeigt werden. Das kann durch Naturgewalten (wie z.B. Vulkanausbrüche, Überflutungen, Wirbelstürme usw.) geschehen oder auch durch die genetische Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der Viren (Corona als Krone aller Viren). Hier offenbart sich die Überlegenheit der Natur, deren Intelligenz im Unendlichen wurzelt, während die Intelligenz des menschlichen Verstandes nur auf begrenztem Wissen basiert.

Wieder einmal haben wir die Chance, innezuhalten, dankbar zu sein, daß uns das Leben geschenkt wurde und anzuerkennen, daß die Macht über Leben und Tod nicht in menschlichen Händen liegt.