Moss, Richard

Glauben wir wirklich, daß wir unser Denken dazu benutzen sollen, um uns über unser Fühlen und aus unserem Körper heraus zu erheben ? Bewußtsein heißt tiefer und tiefer das Fühlen zu verkörpern ... ... eine fühlende Beziehung zum unendlichen Sein herzustellen.

Stern

Die Wirklichkeit, auf die wir achten, war niemals dazu gedacht, die ganze Intensität unseres Daseins zu enthalten. Um die volle Intensität zu fassen, muß sich das Spektrum der Wirklichkeit selbst erweitern.

Richard Moss, Illusion der Getrenntheit, München 1991, S. 223

Stern

17. Jenseits der Notwendigkeit, Kriege zu führen

Das Bewußtsein bewegt sich gesetzmäßig immer auf die höchste Energieebene, die ein System stützen kann. Daraus ergibt sich, daß wir den Krieg niemals überwinden werden, bis wir nicht eine Lebensweise finden, die stetig mehr Energie erzeugt und einer sich verbindenden Menschheit wirksamer dient, als der Krieg es getan hat.

In diesem Sinne ist der Krieg keine Sache in sich selbst, sondern repräsentiert die Summe aller der Menschheit verfügbaren Fähigkeiten auf der Basis des Subjekt-Objekt-Bewußtseins. Er beginnt mit der Identifikation des Selbst als Abgetrenntem. Geben wir dieser Getrenntheit einmal Vorrang, so führt der Grundmechanismus der Energieaktivierung dazu, daß zwischen den getrennten Teilen Wettbewerb entsteht. Meiner Erfahrung nach wäre eine auf Liebe und Brüderlichkeit beruhende Welt nur für ganz wenige Menschen wirklich möglich, ganz gleich, wieviel Wert wir diesen Prinzipien beimessen. Wir sind über den Krieg empört und suchen seinen Gegenpol im Frieden und der Brüderlichkeit. Wir sagen zwar, daß wir Frieden wollen und die Werte der Einheit hochhalten, doch tatsächlich ist die Mehrheit der Menschen in Zeiten des Kampfes oder Krieges lebendiger, dem Gipfel ihrer Fähigkeiten näher, kreativer und eher in der Lage, die Einheit mit ihren Mitkämpfern zu feiern. Obwohl ich kein Befürworter des Krieges bin, weiß ich doch um die Nutzlosigkeit und vielleicht auch Zerstörungskraft der Friedens- und Liebesideale, wenn sie aus einer Angst vor dem Krieg (und dem Tod) hervorgehen und nicht aus einer radikalen Lebensfähigkeit.

Es scheint so, daß das Gesetz der Bewußtseinsentwicklung wenig mit der menschlichen Vernunft zu tun hat. Es kümmert sich nicht darum, was wir wollen oder was wir für vernünftig halten, nur darum, was notwendig ist. Die Unausweichlichkeit der Wandlung hat ihre eigenen Mittel und ihr eigenes Zeitmaß. Hat der Krieg in seiner Fähigkeit, die Menschheit zu ihrem höchsten Krafteinsatz anzuspornen, Vorrang, dann wird er im Repertoire der Kräfte, die die menschliche Evolutioh beschleunigen können, zur vorgegebenen Wahlmöglichkeit – mangels einer besseren. Wenn unseren Bemühungen, den Krieg zu überwinden, nur unsere Vernunft zugrunde liegt, so fürchte ich, daß diese Bemühungen auf wackligen Füßen stehen. Es muß sich vielmehr um eine Leidenschaft handeln, die überhaupt nicht vernünftig ist. Es muß sich um eine Leidenschaft handeln, die aus der grundlegenden Erkenntnis der Wahrheit und Einheit entsteht, so daß man tatsächlich energetisch in der Lage ist, sich mit einer größeren Dimension zu vereinen und sich aus dieser Energie zu erhalten. Die Leidenschaft, die aus der Kraft einer edlen Begründung entsteht, reicht da nicht aus. Insofern die Friedensbewegung ihre Identität und Bedeutung aus dem Kampf gegen etwas gewinnt, führt sie in das menschliche Bewußtsein kein neues Element und keine neue Möglichkeit ein. Diejenigen Menschen, die die Sache unterstützen, müssen dadurch genauso total belebt werden, wie es in einem Krieg der Fall wäre. Wir müssen bereit sein zu sterben, und wir müssen uns ebenso für die Suche nach uns selbst und fur die Erneuerung von Beziehungen schöpferisch, intensiv und bedingungslos einsetzen, wie wir es in Kriegszeiten tun würden.

Ich kann die Lebendigkeit, die durch die Liebe im Gegensatz zu Wettkampf, Krise und Kampf repräsentiert wird, am besten an einer Erfahrung verdeutlichen, die ich vor einigen Jahren machte. In einem Zentrum, das der Arbeit mit sterbenden Kindern gewidmet war, wurde den Patienten beigebracht, bekräftigende Aussprüche der Liebe und des Friedens zu wiederholen. Das wurde mit Visualisierungen verbunden, die die Krankheit bekämpfen sollten, mit Unterstützung durch die Familien usw. Ich will diese Arbeit nicht abwerten, denn sie versuch!, eine tiefere Inspiration zu verkörpern. Doch frage ich mich, ob das nicht mehr für die Erwachsenen als für die Kinder gilt. Mein Erlebnis hatte ich mit dem Bruder eines dieser Patienten und seinen Eltern. Je mehr die Eltern ihn in das Programm mit seinem kranken Bruder einzubeziehen versuchten, so schien es, desto gewaltsamer verhielt er sich in der Schule. Ich verbrachte mit diesem jungen Menschen einige Zeit und bemerkte, daß seine Lebendigkeit jedesmal erstarrte, wenn ich vom Programm seines kranken Bruders sprach, die Vorstellungen der Liebe erklärte und die Affirmationen wiederholte. Er gehorchte den Erwartungen der Erwachsenen, war in sich selbst dabei aber nicht lebendig. Wenn er von seinen Raufereien in der Schule sprach, dann leuchteten seine Augen und sein ganzer Körper bebte vor Vitalität. Ich ließ ihn das Programm beschreiben, mit dem er und sein Bruder im Zentrum zu tun hatten, und dann darüber sprechen, was zu Hause, in der Schule, mit seinen Lehrern und Kumpanen geschah. Dabei bat ich die Eltern zu beobachten, wovon er wirklich begeistert war. Jedem wurde dabei deutlich, daß dieser kleine Junge anfangen würde zu sterben, wenn er den liebevollen Aphorismen und den damit zusammenhängenden Werten folgen müßte.

Familien- und Geschwister-Psychologie ist eine komplexe Sache: Es gab da nämlich noch andere Faktoren: die Schuldgefuhle des Jungen, daß es ihm selbst gutging, und sein Unmut über die Aufmerksamkeit, die sein Bruder bekam. Ich glaube jedoch, daß der Junge auf einer tieferen Ebene versuchte, seinen Bruder zu heilen. Unbewußt trug er eine kompensierende Energie, eine Kraft des Kampfes, der Aggressivität, der ichbezogenen Sturheit und der Stärke. Er zeigte uns, daß er weniger lebendig war, wenn er die spirituellen Werte annahm, um sich an die Vision der Erwachsenen anzupassen. Der Ausdruck seiner eigentlichen Individualität führte sofort zu größerer Lebendigkeit und Ausstrahlung. (In diesem Fall erforderte der individuelle Ausdruck einen Gegner, eine Barriere; gegen die er drücken konnte.) Wenn wir spirituelle Lehren fur wertvoll halten, jedoch nicht die Dimension der Lebendigkeit verstehen, in welcher sie wirklich werden, wenn wir sie verfrüht auf einer Entwicklungsstufe als den rechten Weg aufdrängen, können wir die Lebenskraft durchaus kurzschließen.

Mit einem solchen Verständnis sehen wir, daß die Überwindung des Krieges niemals bloß aus einer neuen Denkweise kommen wird, sofern das Denken nur ein Konzept innerhalb des gleichen unveränderten Energiesystems ist. Um zu äußerem Frieden zu kommen, müssen wir zunächst eine Erkenntnis der Ganzheit erreichen und mit dem schwierigen Prozeß beginnen, uns auf den inneren Frieden hin zu bewegen. Der Frieden selbst mag eine Illusion sein wie der Mythos von einem vergangenen goldenen Zeitalter oder ist passender vielleicht jener Gegenpol in unseren Vorstellungen, so daß wir das ewige Ferment des Wandels beurteilen und ermessen können. Man darf die Dynamik des Krieges nicht unterschätzen. Er erfordert eine apokalyptische innere Einstellung, eine Ebene der Disziplin ohne die Sicherheit der Richtigkeit oder des Erfolges. Ebenso bringt die Disziplin des Soldaten keine Garantie fur Sicherheit oder Unverletztheit mit sich. Wir können uns durchaus die Frage stellen, ob die Überwindung des Krieges in einer Demokratie, in der wir momentan leben, überhaupt die nötige Lebendigkeit erzeugen könnte. Es scheint, als habe der Krieg darin einen Vorteil. Es entsteht eine ungeheure seelische Kraft, die den wissenschaftlichen und sozialen Fortschritt beschleunigt, die Hunderttausende von Individuen zu Aktionen antreibt, bei denen sie sich ständig auf dem Gipfel ihrer selbst befinden, bei denen sie alles riskieren und sich mit einer Lebendigkeit bewegen, die nur wenige zuvor berührt haben. All das ist nur möglich, weil die Kriegsmaschinerie nicht demokratisch ist, sondern autokratisch. Wir geben unser Recht auf, Vorgesetzten zu widersprechen, oder wenn wir ihnen widersprechen dürfen, können wir unsere Mitarbeit nicht verweigern, ohne unser Leben oder unsere Freiheit zu riskieren. Uns wird befohlen, wann wir aufzustehen haben, was wir anzuziehen, was wir zu essen, was wir zu tun haben. Wir führen bestimmte komplexe Verhaltensweisen durch, bis sie zum Reflex werden. Wir lernen, uns auf andere in einem solchen Maße zu verlassen, daß das Gefühl der Kameradschaft im Krieg über jede frühere Erfahrung der Liebe oder Freundschaft hinausgehen kann.

Ich habe hier nicht die Absicht, den Krieg zu romantisieren oder zu verherrlichen. Ich will nur unterstreichen, welche Energiestufe dabei eine Rolle spielt. Und wir müssen uns klarmachen, daß diese Kräfte nicht nur bei Soldaten auftreten, sondern auch bei der ganzen Gesellschaft, die die Kriegsführung unterstützt. Im Zweiten Weltkrieg arbeiteten die Leute in Zwölfstundenschichten und bauten Kriegsschiffe in weniger als 48 Stunden zusammen. Im gleichen Krieg kamen äußerst individualistische Persönlichkeiten in Los Alamos und anderen Laboratorien zusammen und bändigten in 26 Monaten das Atom, um die Atomwaffen zu bauen, die heute zum erstenmal in der Geschichte unsere Welt zerstören oder den Krieg als überholt erscheinen lassen können.

Bedenken wir, daß die Energiestufe einer im Krieg vereinten Nation die Wissenschaft derart beschleunigt hat, daß wir damit eine Stufe der Technik erreichten, für deren Steuerung wir immer noch nicht die spirituelle Reife besitzen. Denken wir nur daran, daß der Drang zur Befreiung, der in den Vereinigten Staaten und den westlichen Nationen aufgetreten ist, eine direkte Folge der Beteuerungen zum Leben und zur Gerechtigkeit war, die aus den Beobachtungen der Schrecken des Zweiten Weltkrieges hervorgegangen waren. In der Nachkriegszeit wuchsen die Trappisten und andere spirituelle Gruppen schneller an als jemals zuvor oder danach. Der Krieg katalysierte die spirituelle Öffnung und die mystische Suche wirksamer, als Friedenszeiten es gewöhnlich tun. Bedenken wir auch in einem größeren historischen Zusammenhang, auf welche Weise der Krieg zuvor getrennte Kulturen verschmolzen hat. Der Marsch Alexanders des Großen nach Indien veränderte das Gesicht des Nahen Ostens für alle Zeit. Mit jeder neuen geopolitischen Vormachtstellung kamen immer größere Teile der Menschheit unter eine einzige Herrschaft und wurden allmählich einem neuen kulturellen Zusammenhang unterstellt. Fragen wir uns dann einmal, was wir hier wirklich anschauen. Ist der Krieg wirklich völlig atavistisch, destruktiv, negativ und böse? Meine Antwort ist nein. Der Krieg ist immer destruktiv gewesen, aber bei der Erkenntnisebene, zu der die Menschheit wirklich fähig gewesen ist, könnten wir den Krieg durchaus als unsere älteste Religion ansehen. Keine andere Institution, kein anderer sozialer. oder religiöser Vorgang hat im Verlauf der Geschichte die Lebendigkeit von derartigen Massen zusammengebracht wie der Krieg. Können wir dann immer noch glauben, daß das alles falsch gewesen ist, ein Beweis des tierischen Wesens des Menschen oder der Erbsünde? Paradoxerweise repräsentiert der Krieg die menschliche Zivilisation gleichzeitig auf ihrem Höhepunkt wie auch auf ihrem Tiefpunkt.

Wir müssen die Frage nicht nur mit Zielstrebigkeit und idealistischen Vorstellungen, sondern auch mit großer Intelligenz stellen: Ist die Menschheit jetzt bereit, über den Krieg hinauszugehen? Aus dieser Frage folgt eine weitere: Haben wir jetzt eine neue Religion, deren Fähigkeit, die Menschheit zu einen und uns auf ein höheres Energiepotential zu erheben, größer ist als diejenige des Krieges? Die Antwort beruht meiner Meinung nach darauf, ob wir das Leben mit ebenso wandelnder Kraft umarmen können, wie wir sie sonst aufbringen, um es zu bezwingen.

Der Atomkrieg hat unsere ganze Einstellung zu Konflikten verändert, gerade weil er nicht gewonnen werden kann und weil die durch ihn ausgelöste Katastrophe sehr real erscheint. Zum ersten Mal muß unsere Neigung, Uneinigkeiten durch bewaffnete Macht zu lösen, zutiefst gemäßigt werden. Wir müssen also nicht nur dem Auftreten kleinerer Konflikte eine ganz neue Art der Aufmerksamkeit widmen, sondern auch allen Annahmen, die wir über unsere persönlichen Interessen haben und die in Konflikten gipfeln könnten. Das Ergebnis ist eine ungeheure Beschleunigung unserer Erkenntnis gewesen, daß alle nationalen Interessen miteinander verbunden sind. Das Konzept einer Nation selbst wird allmählich bedeutungslos, weil Nation eine Differenzierung bezeichnet, die gegenüber den viel natürlicheren vereinigenden Faktoren nicht bestehen kann, welche die Menschheit verbinden. All dies ist offenkundig und hat viele zu der Anschauung geführt, daß eine Bewegung über den Krieg hinaus unvermeidbar ist. Dabei ist oft das Verständnis dafür verlorengegangen, welchen großen Wert der Krieg dargestellt hat, und die Frage ist unbeantwortet geblieben, ob das menschliche Leben zur Zeit eine gleiche oder größere Kraft durch eine neue Religion erreichen kann als durch den Krieg.

Verglichen mit der Dynamik des Krieges sind die heutigen Religionen sehr jung. Ja, in dem Maße, in dem diese jungen Religionen zu weiteren Wegen wurden, Unterschiede festzulegen, anstatt die grundlegenden Gemeinsamkeiten zu suchen, wurden sie zu Unterpfanden des Kriegsprinzips. Im Namen der Religionen sind mehr Kriege geführt worden als auf Grund anderer Ursachen. Im Namen von Christus oder Allah sind mehr Menschen gestorben als aus anderen Gründen. Es wird Zeit für uns zu verstehen, daß die traditionellen Religionen den Prozeß darstellen, durch welchen sich die Erkenntnis des Daseins allmählich vom Bewußtsein eines Menschen oder weniger Individuen ins Bewußtsein vieler anderer ausbreitet. Der Krieg ist zur Zeit der Inbegriff des Subjekt-Objekt-Bewußtseins. Dieses Bewußtsein ist so alt, daß es das grundlegende Bewußtsein der ganzen Menschheit darstellt. Es ist die Basis dessen, was ich als die Kriegsreligion bezeichne, und es umfaßt viel mehr als bewaffnete Konflikte. Es liegt auch in der Macht, die wir aus der Manipulation und Eroberung unseres Planeten gewinnen, seiner Ressourcen, unserer Psyche und unserer Körper. Sogar unsere Medizin besitzt kriegerische Eigenschaften, indem sie die Krankheiten bekämpft, um den Patienten wieder ins Schlachtfeld des Lebens zurückzuschicken. In verschiedenem Maße liegt allen neuen Religionen wie dem Christentum und dem Buddhismus ein erwachendes Gefühl für das Ganze zugrunde, eine Erkenntnis der Einheit. Auf Grund des wissenschaftlichen Studiums der Umwelt wird die gleiche Erkenntnis jetzt ebenfalls von den Wissenschaften verkündet, besonders auch von der Systemtheorie und der Hochenergiephysik.

Das Beziehungsprinzip brauchte in der Tat zunächst Unterschiede, um die erhöhten Kräfte zu erzeugen, die für eine Erkenntnis der Einheit notwendig sind. Deshalb ist es für uns entscheidend, die Kriegsreligion nicht blind zu unterdrücken, sie als häßlich und falsch zu bezeichnen und edel darüber hinweg zu unserem «richtigem» Verständnis zu schreiten. Wir dürfen nicht mehr diejenigen verdammen, für die die Kriegsreligion der Weg zur größtmöglichen Lebendigkeit bleibt. Aus einer Perspektive der Weisheit erscheint es, daß die Kriegsreligion aus dem Urnebel des auftauchenden menschlichen Bewußtseins erwachsen ist. Unter der Annahme der Getrenntheit hat sie der Menschheit das höchstmögliche Maß an Energie zur Verfügung gestellt. Und genau diese Energie ist es, die uns zur Möglichkeit der Einheit erhoben hat. Und gerade der Atomkrieg, das letzte Szenarium der trennenden Grundhaltung, bezeichnet am stärksten die Grenzen unserer ältesten Religion und drängt uns zu einem neuen Bewußtsein.

Auch die neue Lebensreligion, die auf der Einheit aufbaut, kennt den Krieg. Doch ist dieser Krieg die Kraft der inneren Gewaltlosigkeit, der Selbstbeherrschung, die uns sicher zum Augenblick der grundlegenden Diskontinuität und Wandlung bringt. Wie groß wir uns auch die physische Zerstörung eines Atomkriegs vorstellen, sie wäre nicht größer als die psychische Zerstörung, die in der halben Stunde, die das Ausfechten eines Atomkrieges braucht, zustande käme, wenn die gesamte Menschheit (bei unserer momentanen Reifestufe) plötzlich erwachen würde.

Wir können nicht hoffen, den Krieg zu überwinden, ehe nicht immer mehr von uns sich der inneren Apokalypse der grundlegenden Erkenntnis gestellt haben. Diese Feststellung sollte jedoch nicht in eine Ablehnung der gegenwärtigen Friedensbemühungen verdreht werden. Die derzeitige Friedensbewegung geht ganz im Gegenteil aus einem intellektuellen Verständnis der Einheit allen Lebens hervor. Im Verkünden dieser Vision anerkennen wir eine teilweise Inkarnation der Einheitserkenntnis in dem allgemeinen menschlichen Leben. Es handelt sich jedoch nur um eine Verkörperung auf der geistigen Ebene, nicht um eine vollständige Inkarnation. Um daraus eine vollständige Inkarnation zu machen, muß eine totale energetische Umorganisation des Bewußtseins auftreten, die neue Note des radikalen Erwachens muß erklingen. Ist diese Note einmal da, so wird sich gleichzeitig eine neue Fähigkeit ergeben, die Lebendigkeit aus der Einheit des Lebens zu erreichen. Diese Lebendigkeit ist mindestens so groß wie diejenige, die wir durch Kampf und Krieg erreichen. Zum ersten mal wären wir dann in der Lage, wahrhaft zusammenzuarbeiten.

Heutzutage kann die Menschheit in geringem Maße außerhalb der Kriegsreligion zusammenarbeiten. Die Macht der Musik und der Kunst hat es Orchestern und Schauspielern ermöglicht, jahrelang zusammenzuarbeiten. Auch gewisse Ashrams, religiöse Gruppen und manchmal soziale Bewegungen wie diejenigen von Gandhi und Martin Luther King haben Menschen zu solchen vereinigten Handlungen zusammen geführt. Gerade bei den letzteren Bewegungen führt die erhöhte Energie der gewaltlosen Einheit zu einem gewissen Maß an Erleuchtung beim Gegner. Das ist die Macht der Wahrheit, von welcher Gandhi sprach. Und darin liegt mehr als die Vorherrschaft eines Moralprinzips; es ist eine lebendige Demonstration dafür, daß die Menschheit sich in höheren Möglichkeiten (selbstlosen Interessen) vereinen kann und daß die Kraft solcher Einheit tatsächlich größer ist als die Kraft der Menschheit, die sich im Kriegsprinzip (Eigeninteresse) vereint. Doch sind solche Bemühungen noch keine Art eines endgültigen Erweises. Es sind eher Zwischenstadien zwischen dem Krieg und dem wirklichen Vermögen, über den Krieg hinauszugehen. Militante Gewaltlosigkeit und alle Bemühungen zur Friedenserschaffung, die auf dem Überwinden des Bösen oder der Ungerechtigkeit beruhen, bauen immer noch auf das Kriegsprinzip auf (auch wenn es auf weniger gewaltsame Weise vertreten wird). Es wäre ein Irrtum, Gandhis Arbeit als wirklich gewaltfrei zu bezeichnen oder zu glauben, daß er den Krieg tatsächlich überwunden hätte. Er machte Energie auf ähnlichem Wege zugänglich wie die Kriegsreligion. Doch war seine Arbeit eine Verfeinerung des Krieges, da sie sich ohne Gewalt im üblichen Sinne für eine Sache einsetzte. Deshalb ist diese Arbeit weise, denn anstatt die Kriegsreligion zu unterdrücken oder abzulehnen, erhebt sie sie auf eine höhere Oktave.

Christus sagte, er sei nicht gekommen, das alte Gesetz umzustoßen, sondern es zu erfüllen. Es ist auch das Wesen der Erleuchtung, daß sie aus dem alten Bewußtsein erwächst, gerade während sie es überwindet. Um über den Krieg hinauszuwachsen, werden wir das Beste von ihm nehmen müssen: die Disziplin, den selbstlosen Einsatz, die tiefgreifende Zusammenarbeit und Kameradschaft, die klaren Ziele. Und dabei müssen wir das Gefühl des Wunderbaren, des Geheimnisses und des Nichtwissens behalten, das unser Bewußtsein immer wieder mit etwas verbindet, was jenseits unseres eigenen Begreifens liegt. Das erinnert uns an Sokrates während der Peleponnesischen Kriege, der in Trance dastand, während sich der Schnee auf seinen Schultern sammelte und die Männer überall um ihn herum starben. Vielleicht wurde er von der Kraft, die die kämpfenden Soldaten erzeugten, derartig mitgerissen, daß sie für ihn zum Samadhi wurde. Später soll er gesagt haben, daß auf dem Schlachtfeld mehr Liebe ist als zu Hause oder im Tempel. Er beobachtete dabei die Energie der Menschheit, die in größerem Maßstab zusammenarbeitet. Während dies auf einer Ebene zerstörerisch ist, erschafft es auf der Ebene der Seinsverwirklichung gleichzeitig den Brennstoff des transzendenten Bewußtseins.

Und diesen Brennstoff dürfen wir nicht verlieren, indem wir über den Krieg hinausgehen. Wir müssen den gewaltigen Unterschied dazwischen verstehen, wie ein erwachtes Bewußtsein über Energie verfügt und wie dies die große Mehrheit der menschlichen Wesen zur Zeit tut. Im Grunde genommen stellt die Kriegsreligion einen Kontrast dar, einen Feind, der zu überwinden ist, ein Tor, das erreicht werden muß. Versuchen wir uns dagegen eine Bewegung zur höheren Energie vorzustellen, die vorrangig aus einer einfachen Liebe zum Leben entspringt (nicht dem Festhalten des Lebens in Reaktion gegenüber dem Tod oder gegen Gewalt oder das Böse). Können wir uns vorstellen, daß sich die Menschheit bewußt dafür entscheidet, diesem Prinzip zu dienen? Es ist gar nicht möglich, das bewußt zu erwählen. Es muß der Erkenntnis entspringen. Dies bewußt anzustreben würde eine Aufspaltung des Lebens in die Polarität von Liebe und Nichtliebe bedeuten – und wir wären wieder bei der Kriegsreligion.

Aus der Perspektive der Erleuchtung gesehen, hat die Menschheit die Harmonie mit dem Leben niemals verlassen. Nur die Eigenschaften und Methoden des Ausdrucks dieser Harmonie ändern sich. Die Menschheit ist niemals durch die Gesetze und Gebote aufgestiegen, die sich Menschen erdacht haben, ganz gleich, welchen Quellen diese Offenbarungen zugeschrieben wurden. Die Offenbarungen waren einfach Ausdruck von Erkenntnissen, die versuchten, eine tiefere Essenz des Lebens mitzuteilen. Und dieses Verständnis unserer wesenhaften Ganzheit in allen Handlungen durch die Zeitläufe hindurch geht über den Krieg hinaus. Eine Bewegung, um eine Welt jenseits des Krieges zu erschaffen, tut dies nicht. Darin liegt die Paradoxie, die radikale Dynamik der Polaritäten, die wir aushalten müssen, wenn wir es wagen, uns der Hoffnung auf eine größere menschliche Ganzheit anzunähern. Dieses Verständnis macht die Wunde der Friedensstifter aus, denn sie sehen, daß die Sache, für die sie sich einsetzen, aus einem Mangel an Frieden in unserem Herzen entsteht. Es geht dabei nicht um den oberflächlichen Mangel an Frieden, der offensichtlich wird, wenn wir wütend sind oder über Verfahrensfragen uneinig. Solche Uneinigkeiten bedeuten nur, daß wir unterschiedliche Erkenntnisebenen darüber haben, welcher Sache wir zu dienen glauben und wie wir uns das Weitergehen vorstellen.

Das Gesunde und Schöne an der Friedensbewegung liegt darin, daß sie jeden ernsthaften Teilnehmer in einen tiefgehenden Prozeß der Suche nach dem eigenen Wesen stellt. Derjenige Teil unseres Bewußtseins, der durch Kampf statt Liebe motiviert wird, wird durch die edle Sache zur Teilnahme überlistet; und das führt unweigerlich zu einer Begegnung mit uns selbst. Und diese Begegnung verwundet uns. Beten wir darum, daß es eine tiefe Wunde sei, ein tiefes inneres Leid, das wir nicht leicht ignorieren können. Beten wir darum, daß es eine Wunde des Verständnisses sei, die uns bis zu den tiefsten Wurzeln des Bewußtseins freilegt, in welchen wir unsere Grundhaltung zum Leben erkennen können. Möge sie mit Konflikten und Meinungsunterschieden belastet sein, die uns zur Demut bringen, nicht zur Selbstgerechtigkeit. Beten wir darum, daß immer mehr von uns in diese tiefste dunkle Nacht in sich selbst gebracht werden. Es ist die Nacht, in der wir lieber sterben würden, als zu leugnen, daß Gottes Friede dann kommt, wenn unser Ich völlig ausgelöscht ist. Er kommt nicht nur, weil wir eine gute Arbeit für eine edle Sache geleistet hätten.

Die Friedensbewegung stellt einen natürlichen Ausdruck derjenigen Kraft dar, die uns zu uns selbst bringt, zu unseren wirklichen Zielen und der Welt, in der wir bereits leben, die zu sehen wir aber keine Augen haben. Eine Welt des Friedens werden wir niemals beabsichtigen und dann erschaffen. Liegt sie wirklich in unserem tieferen Wesen, so wird eine solche Welt vielleicht eines Tages einfach dasein. Die Möglichkeit einer solchen Welt ist für mich klar, denn ich habe diese Erleuchtung und ihren Frieden kennengelernt. Und ich kann gleichzeitig jene Aspekte meiner selbst beobachten, die aus dem Kampf hervorgehen wie auch diejenigen, die aus dem tieferen Frieden kommend die Schöpfung spiegeln. Ich habe aber keine Vorstellung davon, wie wir dahin kommen werden. Ich kann einen Wert darin sehen festzulegen, was wir bevorzugen. Ich kann die Möglichkeit der Vereinigung zu einer weltweiten Gemeinschaft sehen, die sonst über soviele Probleme getrennt wäre. Ich kann das Zusammenkommen von Menschen mit ähnlichen Meinungen und Zielen als eine Bewegung zu einer vereinten Energie sehen. Es ist deshalb klar, daß auf diese Weise den höheren Kräften gedient wird wie in anderen Teilen der Welt auf den Schlachtfeldern. Ich kann auch sehen, daß viele in der neuen Friedensbewegung eine Heimat finden werden, die sich unter den Religionen (Buddhismus, Judentum, Christentum, Islam) niemals vereinen könnten, weil dieselben in einem zu großen Ausmaß vom trennenden Selbst beansprucht worden sind. Und persönlich mag ich diese Bewegung. Die Religion der Friedensbewegung ruht fest auf den Schultern einzelner menschlicher Wesen und nicht so sehr auf dem kindlichen Glauben an eine elterliche Gottheit. Diese Religion hält das Ästhetische und Sinnliche für ebenso wertvoll wie das Theoretische. Deshalb werden alle möglimen Arten von Menschen davon angesprochen: die Gefühlsmenschen, die Intellektuellen, die Philosophen, die Wissenschaftler, die Künstler und die Kinder.

Wie alles andere auch kann sie aber nicht für alle menschlichen Wesen angemessen sein (und das kann man auch nicht erwarten). Es gibt jene, die die Friedensbewegung in ein Schlachtfeld des eifernden Aktivismus verwandeln würden, um ihre eigene Identität zu stützen. Da gibt es diejenigen, die solche Werte nicht annehmen können, ohne damit zu einer niederen Ebene der Lebendigkeit zurückzufallen wie der kleine Junge. Sie haben ein Recht darauf, zu kämpfen und für ihre Sache zu sterben, ganz gleich, was wir in unserer Suche nach Selbstvollendung darüber denken mögen. Diejenigen, die wirklich für eine Friedensbewegung eintreten wollen, müssen in ihrem Herzen für all diese Menschen Liebe tragen, seien es auch Terroristen oder die Wahnsinnigen mit der atomaren Macht. Wollen wir die Möglichkeit wirklich erkennen, über den Krieg hinauszugehen, dann müssen wir sehen, daß aus unserer Fähigkeit zusammenzuarbeiten immer mehr Energie entsteht. Diese Kraft nährt alle menschlichen Bemühungen. Also werden diejenigen, die noch der Religion der organisierten Gewalt folgen, durch die Energieverstärkung um so mehr (vielleicht kurzzeitig) gestärkt, die von denjenigen ausstrahlt, die jetzt schon wirklich in eine Religion der Einheit eingehen könnten. Wären wir in der Lage, zu schnell in die Einheit hineinzuwachsen (was glücklicherweise nicht der Fall ist), dann würde genau die gegenteilige Wirkung dessen eintreten, was wir zu erreichen hoffen. Die Welt könnte dadurch in eine Gewalt umkippen, die größer ist als alles, was wir je gekannt haben.

Um über den Krieg hinauszugehen, muß jeder Mensch gleichzeitig nicht nur eine anziehende Vision des Friedens, sondern auch die Wunden des Krieges in sich tragen. Es ist wie ein Hinaus- und Hereintreten zur gleichen Zeit, ein gleichzeitiger Schritt zum Frieden und zum Leid. Auf diese Weise finden die dynamischen Polaritäten ihre Ganzheit in jedem von uns. Keine Seite ist abgekapselt worden, kein Aspekt wurde etikettiert und zurückgewiesen. Alle arbeiten zusammen, um uns zu einer größeren Zugänglichkeit und Ausstrahlung zu bringen. In gleichem Maße, wie wir persönliche Kraft und Werte durch Zugehörigkeit zu etwas Rechtmäßigem und Edlem empfinden, müssen wir auch auf die wahre Unwissenheit und Offenheit reduziert werden – vor Gott und vor uns selbst.

Richard Moss: Der schwarze Schmetterling, Ansata Verlag 1989, S.247-257

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