Peter Levine, Angst, Mut und Würde (Weggis 2019)

Peter Levine, Angst, Mut und Würde (Weggis 2019)

deutsche Übersetzung: Silvia Autenrieth, redaktionell überarbeitet von Ekkehard Ortmann

Einführung durch den Gastgeber und Organisator

Meist sind wir damit beschäftigt, daß Angst und Mut eine Beziehung haben, eine geheime Beziehung und das Würde etwas ist, was häufig im Lauf der Sitzung auftaucht, wenn wir in die Tiefe arbeiten. Ich glaube, wenn dieser Würde auftaucht als Ort, dann sind wir immer an einem sehr speziellen Ort, weil es ein Wert ist, der sehr in die Tiefe geht und ich erinnere mich, letzte Woche im Fernsehen gesehen zu haben, wie ein Projekt vorgestellt wurde, daß Palästina viel Geld bekommen soll. Und die interviewten Palästinenser haben gesagt, wir wollen nicht Geld, wir wollen Würde. Das hat nämlich gezeigt, wie tief eigentlich das Bedürf-nis nach Würde ist.

Natürlich hoffe ich, daß ihr bei diesen drei tiefen Aspekten auch die Freude mit dabei habt. Die Freude, diese vier Tage explorierend, erkundend rund um diese Themen zu verbringen. Freude bringt ja schon der wärmere See, das Wetter, all das ist auch schon da. Aber auch ums Thema herum hoffe ich, daß ihr viel Freude habt.

Dann will ich noch Silvia Autenrieth willkommen heissen, die in diesen vier Tagen die deutsche Stimme von Peter ist.

Vor zwei Wochen ist mir klar geworden, jetzt kommt ja dieser Kurs. Ich hatte keine Ahnung, was mache ich denn da eigentlich. Mut ist wirklich etwas, was im Grunde genommen hinter allem steckt, im ganzen Leben geht es im Grunde genommen um Mut.

Vor zwei Wochen bin ich eingeladen worden, zusammen zu kommen mit Mönchen und Nonnen in Plum Village in der Nähe von Bordeaux.

Da sind mir Ideen gekommen und dann war ich in London und habe dort vor einer Gruppe von religiösen Führern und Führerinnen aus allen praktizierenden Religionen gesprochen.

Davor habe ich nicht sonderlich gut geschlafen und habe an all die Probleme gedacht, die da auftreten könnten und wo ich mich vielleicht falsch ausdrücken könnte. Das ist ein Programm, das von Prinz Charles und auch sogar der Königin gesponsert wird. Und da habe ich gedacht, wenn ich da etwas falsch mache, dann vermurkse ich das aber kräftig.

Ich werde euch aber nicht sagen, was ich gemacht habe, weil ihr das selber praktizieren sollt und zwar in der ersten Übung.

Da ist mir dann auch die Idee gekommen, den Titel des Kurses zu verändern, denn wenn der erst mal verändert ist, gibt es vielleicht auch einen neuen Zugang zum Vorgehen. Und mir kam dann die Idee, einen Untertitel hinzuzufügen, nämlich Angst, Mut und Würde, »eine Heldenreise bzw. Heldinnenreise«.

Es geht dabei darum, die Wurzeln der Ehre, der Prinzipientreue, des Selbstwerts bzw. des Selbstwertgefühls, des Stolzes und der Freiheit zu ergründen. Wenn man ein Mikrofon nähme und beliebige Leute auf der Straße befragen würde: „Können Sie mir sagen, was Mut für Sie bedeutet?“ Dabei könnten wir erkennen, inwieweit Mut Auswirkungen auf Menschen hat?

Ich möchte Euch bitten, mit diesem Thema wirklich zu ringen und herauszufinden, wie ihr dieses Thema in seine Bestandteile untergliedern könnt. Geht also wirklich in Euch, um zu ermitteln, was Mut für Euch bedeutet. Ihr könnt das auf Euch selbst beziehen, aber auch auf Menschen, die ihr kennt, Klienten oder Klientinnen. Jede Gruppe könnte vielleicht drei, vier Definitionen finden zu der Frage, was bedeutet Mut für uns. Danach kommen wir wieder zusammen. Nehmt Euch diese Zeit, um in dieses Thema voll einzutauchen, weil der Grundtenor des ganzen Kurses damit zusammenhängt. Ihr habt dafür 30 bis 40 Minuten Zeit und achtet darauf, daß Ihr in jeder Gruppe eine Person habt, die für Euch protokolliert. Und dann hören wir uns von jeder Gruppe zwei bis drei Definitionen von Mut an.

Okay, dann laßt uns in die Sammelphase gehen und mal fragen, welche Mutige zuerst das Mikrofon wollen.

Wenn es um Mut geht, muß oftmals ein ängstigendes Gefühl überwunden werden. Auch ist es wichtig, daß es zum Mut die Fähigkeit und die Kompetenz braucht, das Risiko einzuschätzen, mich realistisch einzuschätzen, daß ich das schaffen kann. Wir brauchen es bzw. es wäre gut, wenn es mindestens 51% Prozent Sicherheit im Innen und im Außen gibt.

Und das braucht auch oder muß verbunden sein mit einer Vision, mit einem Wunsch, einer Stimmigkeit, um überhaupt den Antrieb zu haben, das zu tun. Weiterhin eine Ermächtigung in mir selbst, meine Komfortzone und Kopier-Strategien zu überwinden, um wirklich aus meinem authentischen Selbst heraus in Handlung zu kommen.

Etwas sehr Ähnliches haben wir herausgeschält in unserer Gruppe. Wir kamen zum Schluss, daß bei Mut die Angst ihren Platz hat, aber von der Immobilität entkoppelt ist. Daraus entsteht ein Schritt oder eine Bewegung, die getragen ist vom Impuls des Authentischen. Und daß dadurch auch Würde entsteht – eigentlich durch das Authentische.

Wir haben gefunden, Mut braucht eine Entscheidungsmöglichkeit. Im Mut kommt die Lebens-kraft bzw. der Lebenswille zum Ausdruck, sich einer angstvollen Situation zu stellen, um diese verändern zu können. Die Grundlage für Mut ist ein Mindestmaß an Selbstverbundenheit und Vertrauen ins Leben. Also Urvertrauen. Und Mut dient der Verteidigung der eigenen Würde oder der Würde anderer Menschen.

Das meiste wurde schon genannt, wir haben es einfach in diese Sätze gepackt. Mut ist eine Lebenskraft, die vorwärts geht, in der wir verwirklichen, was in unserem authen-tischen Selbst angelegt ist. Und Mut ist ein Maß an Spannung und Aufregung, die es braucht, um eine Schwelle zu überwinden.

Wir haben in unserer Gruppe angefangen mit den Wurzeln des Wortes Mut oder der engli-schen Variante davon. Im Courage steckt ja core (engl.), der innerste Kern bzw. Cœur (frz.), das Herz. Und das „age“ in Courage bedeutet Aktion oder Handlung. Also Mut ist ein Handeln aus dem Herzen heraus. Dazu hat jemand ein Zitat eingebracht: „Hingabe oder Ergebung heißt, sein Herz in das Maul der Angst zu legen.“

Wir scheinen also zu dem Schluss zu kommen, daß im Mut immer dieses Element der Angst steckt. Und angesichts von Bedrohung oder Angst sind wir geneigt, dem entrin-nen zu wollen.

Im Mut steckt die Möglichkeit, uns dem Schmerz zu stellen. Oft ist der Feind, um den es da geht, in uns selbst. Es könnte Schmerz sein, es könnte eine Krankheit sein. Auch die soziale Kontaktaufnahme erfordert ja oft Mut. Dann erfordert es vielleicht Mut, sich von wohlbekannten Ressourcen abzuwenden, die wir normalerweise einsetzen. Dann erfordert es Mut, sich dem Problem oder dem Schmerz einfach zu stellen, ganz nackt. Und mit den Worten, ich bin hier, umreißen wir das, was es braucht, um dem Schmerz oder der Herausforderung zu begegnen.

Und jemand hat eingebracht, für sie hätte es Mut verlangt, sich ihrer eigenen Selbstverurteilung und ihrer Verwirrung zu stellen.

Wir fanden es auch interessant, daß Peter uns den Auftrag gab, dem Mut näher nachzuspüren und nicht der Angst. Mit Angst ist uns das viel vertrauter, das sind wir so gewohnt. Mut war interessanter, aber auf gewisse Weise auch die größere Heraus-forderung.

Und dann hat noch jemand angesprochen, es ginge darum, einfach die erforderlichen Schritte zu tun, die es braucht, um am Leben zu bleiben und weiterzumachen. Rückblickend ist ihr klar geworden, daß das Mut erforderte. Und darin waren Vertrauen und Zuversicht enthalten.

Es wurde in verschiedenen Worten eigentlich alles schon gesagt. Deshalb kann ich es recht kurz machen. Eigentlich besteht Mut darin, über die Grenze zu gehen, die Komfortzone zu verlassen. Und trotz Angst, das zu tun, was sich richtig anfühlt. Wobei das, was sich richtig anfühlt, sehr individuell ist, da wir von unseren individuellen Erfahrungen geprägt sind. Kann es zu dieser Ermächtigung kommen, schwierige Gefühle zu durchleben? Und wichtig ist da-bei auch, über die Grenzen zu gehen, sich einschätzen können und – meiner selbst bewußt – über eine Schwelle zu treten. Dazu braucht es auch die Bereitschaft, die Angst einzuladen. Mut und Angst sind eigentlich sehr gekoppelt. Das eine ohne das andere gibt es fast nicht. Außer wir haben uns im Bewusstsein unserer selbst verloren. Alles wurde eigentlich schon gesagt. Es ist einfach noch ein bißchen mit anderen Worten.

Ich habe mir ein Herz gefaßt, wie wir im Deutschen so sagen. Denn für mich braucht es jetzt Mut, das per Mikrofon vorzutragen. Wir haben noch einen Satz hinzuzufügen. Mut ist die Bereitschaft, sich selbst zu begegnen in unserer Unvollkommenheit. Dann braucht es, glaube ich, auch eine körperliche Komponente. So eine Verkörperung. Und das andere war Sehnsucht. Das hat was mit Sehnsucht zu tun. Sehnsucht und Neugier, Neues zu erkunden. Das war es von uns.

Also mal ganz ehrlich gesagt, Ihr habt das richtig gut gemacht, das Thema so umfassend abzudecken. Der nächste Schritt wird natürlich darin bestehen, diese Defini-tionen dann auch im Leben umzusetzen. Da wird es dann schon ein bißchen heikel.

Es steckt eine Menge an Gutem drin. Vielleicht lasse ich das wirklich noch abtippen.

Ich bin auf zwei simple Definitionen gekommen.

What is Courage?

Definition 1:
Facing (feeling) your fear and (in spite of it) doing (acting upon) what you 
Are afraid of. How do you feel these fears in the body/mind, At the same
time it is fruitless to deny our fear or self doubt, but to meet it with our SE 
tools.

Definition 2:
Knowing (experiencing viscerally) your deepest yearnings and then acting 
on those (without being invested in the outcome)

Definition 1 habt ihr im Grunde ja auch schon genannt. Sich der eigenen Angst stellen, also sie fühlen. Und trotzdem das tun, wovor man Angst hat, also entsprechend zu handeln.

Definition 2: Wissen, wie ihr die Ängste im Körper und auf seelisch-geistiger Ebene erlebt. Denn es bringt nichts, die eigene Angst oder den Selbstzweifel zu leugnen. Vielmehr geht es darum, ihnen mit unserem SE-Werkzeug (Somatic Experience) zu begegnen.

Inbezug auf die Frage, was Mut ist, bedeutet diese Definition, zu wissen, das heißt, es viszeral – sozusagen im Herzen – zu erfahren, was die tiefste Sehnsucht ist und entsprechend zu handeln, ohne am Ergebnis zu kleben. Ich denke, auf gewisse Weise ist damit alles abgedeckt, was Ihr hier für Euch herausgefunden habt. Prima, daß wir da auf der gleichen Wellenlänge sind.

Jetzt ein Beispiel für jemanden, der wirklich Mut beweist. Eine Person, bei der man leicht schon an der Körpersprache ablesen kann, daß sie sich nicht leicht tut mit Mut, weil sie offensichtlich dem Asperger-Spektrum zuzurechnen ist. Ich denke, wir schauen das jetzt mal gemeinsam an. Es ist ein kurzes Video von 4 Minuten Dauer.

Greta Thunbergs Ansprache vor dem Europäischen Parlament

Sie haben diese Worte schon vorher gehört. Unsere Politiker sagen, daß Panik nie zu etwas Gutem führen würde. Aber wenn man im Haus ist und das Haus brennt lichterloh, sind ...

Die Analogie hinkt ein bißchen. Aber der Hauptpunkt ist eigentlich, auf ihre Körpersprache zu achten. Und im Grunde genommen läuft es darauf hinaus, daß sie sagt: „Leute, euer Haus steht in Flammen. Macht mal was, verdammt noch mal.“

Wenn man jetzt in Frankreich wäre, gerade in Südfrankreich, dann wüsste man, wovon sie spricht ...

Aber wenn dein Haus in Flammen steht und du willst nicht, daß es bis auf die Grund-mauer niederbrennt, dann braucht das ein gewisses Maß an Panik.

Und ich würde jetzt nicht Panik sagen, aber sofortiges Handeln. Und ich denke, das meint sie auch.

Wir befinden uns mitten in einer großen Welle von Massenvernichtung. Und die ist ein Zehntausendfaches höher als das, was normal ist. Mit bis zu 200 Arten, die jeden einzelnen Tag aussterben. Erosion von fruchtbarem Mutterboden.

Nehmt Euch eine Minute Zeit, um ihren emotionalen Zustand auf Euch wirken zu lassen. Ich spule noch mal 10 Sekunden zurück.

Toxische Umweltverschmutzung der Luft. Verlust von Insekten, Wildtieren, die Ver-schmutzung unserer Meere. Das alles als Konsequenz eines Lebensstils, von dem wir, die wir zu den Begüterten auf der Welt gehören, davon ausgehen, daß wir darauf ein Anrecht hätten, das so weiter fortzuführen, diesen Lebensstil. Unser Haus ist dabei, in sich zusammenzustürzen. Und unsere politischen Führer müssen entsprechend han-deln. Im Moment tun sie das nicht. Wenn unser Haus in sich zusammenfallen würde, dann würden unsere Führungskräfte nicht so weitermachen, wie sie das heute tun. Dann würden sie fast jeden Teil ihres Verhaltens ändern, wie sie das tun würden, wenn das Haus in sich zusammenstürzt. Dann würden sie nicht drei notfallmäßige Brexit-Gipfel hintereinander abhalten. Das Wort ist eine Ablenkung von all dem, was wirklich wichtig ist.

Es ist offenbar vor den EU-Wahlen. Und sie sagt, die EU-Wahlen stehen kurz bevor.

Und viele von denen, die am meisten berührt werden von dieser Krise, wie etwa ich, dürfen gar nicht mitwählen. Und ebenso wenig sind wir in der Position, etwas ändern zu können an der Entscheidungsfindung in der Politik, in der Geschäftswelt, im techni-schen Bereich, im Ingenieurwesen, in den Medien, in der Wissenschaft. Weil uns ein-fach nicht mehr die Zeit bleibt, um uns schlau zu machen in all diesen Dingen. Und deswegen gehen Millionen Kinder auf die Straße und treten in Schulstreiks ein, um aufmerksam zu machen auf die Klimakrise.

Ihr müsst auf uns hören. Wir können nicht wählen. Ihr müsst für uns wählen, also im Sinne eurer Kinder und Enkelkinder. Was wir jetzt tun, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden.

Mit dieser Wahl wählt ihr für die zukünftigen Lebensbedingungen der Menschheit. Und die Politiker, die wir dafür brauchen, existieren heute noch gar nicht. Einige Alternativen sind definitiv schlimmer als andere. Einige Parteien wollen noch nicht einmal, daß ich heute hier stehe und das Wort ergreife, weil sie so verzweifelt darauf aus sind, die Klima-Krise zu leugnen. Euer Bestes zu tun, reicht nicht mehr. Ihr müsst alle das scheinbar Unmögliche tun. Und es ist in Ordnung, wenn ihr euch weigert oder wenn Sie sich weigern, auf mich zu hören. Schließlich bin ich ja nur ein 16-jähriges Schulmäd-chen aus Schweden. Aber Sie können nicht die Wissenschaftler ignorieren. Und die Millionen streikender Schulkinder, die für ihr Recht auf eine Zukunft streiken. Bitte versagen Sie hierbei nicht.

Was Ihr bei ihrer Rede gerade gesehen habt – diese tiefe Sehnsucht – was hat das in Euch wachgerufen, was habt Ihr gefühlt, was habt Ihr dabei gelernt?

Wenn ich Redakteurin des „Guardian“ gewesen wäre, dann hätte ich nicht geschrieben „Greta Thunbergs emotionale Ansprache“, sondern hätte gesagt „Greta Thunbergs würdevolle Ansprache“.

Und eine enorme Spannung, die diesen Mut erfordert.

Und der springende Punkt dabei ist das tiefsitzende Verlangen, dieser brennende Wunsch nach etwas, das über die eigenen Belange hinausgeht.

Als Mutter kann ich da so viel mit anfangen, dieser Mut, etwas auch im Namen meiner Kinder in Bewegung zu setzen. Und es ist ja ein Anliegen, was sie da anspricht, was in unser aller Sinn ist.

Empörung in Kombination mit dieser tiefen Sehnsucht und dem tiefen Verlangen.

Mir kam ein Entsetzen entgegen, das nicht in Hilflosigkeit stecken blieb, sondern in Worten einen Ausdruck fand.

Für mich war das die tiefe Trauer, was dieses Mädchen erlebt, durchlebt. Und daß sie die Wirklichkeit sieht, wie sie ist, und nichts verschönert, sondern hinguckt. Mit ihren 16 Jahren.

Ich finde, man konnte ganz gut sehen, wie sie durch verschiedene Phasen von körperlicher Anspannung und relativer Entspannung ging. Es gab Zeiten, wo ich das Gefühl hatte, sie hat-te mehr damit zu kämpfen, und es gab dann wieder Momente, in denen sie sich leichter damit tat.

Für mich war ganz stark der Moment, wo sie im Mitgefühl oder auch in der Trauer war, wo sie aufzählt, was schon alles vernichtet ist, die Insekten, die tot sind, die ver-wüsteten Meere und so weiter. Es war einfach ihr Mitgefühl und ihre Traurigkeit ganz stark spürbar und auch wie sie ringt, es so weit sozusagen zu halten, daß sie weiter sprechen kann. Also für mich war das der höchste emotionale Moment.

Was mich neben allem Emotionalen und Reifen besonders beeindruckt hat, ist ihre Wohlgespanntheit im Körper. Also ihr Aufrechtstehen, eine Art Gleichgewicht in der Kraft, also eine Wohlspannung, würde ich dazu sagen. Das kam so schön durch zu-sammen mit ihren Emotionen, und dadurch war sie, glaube ich, auch mit ihren Emotionen fähig, das zu tun.

Die Greta Thunberg soll ja auch einmal zu Politikern gesagt haben, ich möchte, daß ihr die Angst spürt, die ich jeden Tag spüre. Und ich glaube, das ist ein großes Problem, daß wir Emotionen vielleicht verdrängt haben oder nicht spüren können und deshalb so handeln, wie wir es jetzt tun.

Sie scheint ein angemessenes Behältnis* („containment“) für ihren Zorn zu haben.
* die deutsche Entsprechung für den engl. Begriff „containment“ ist „Enthaltsamkeit“ – im ursprünglichen Wortsinn.

Ich habe schon ziemlich viel zu tun gehabt mit Aktivisten, Umweltaktivisten, und das kann manchmal ziemlich abschreckend sein, also das enorme Ausmaß an Wut. Ich würde so weit gehen zu sagen, daß bei den NGO’s in ziemlich hohem Maße Sucht vorkommt und auch unaufgelöste Kindheitstraumen.

Ihre Botschaft ist einfach so kristallklar, daß sie wie ein Rasiermesser etwas mitten durchschneidet, so daß sichtbar wird, was innen verdeckt war. Und dann noch die Tatsache, daß sie erst 16 ist und so unschuldig, so rein.

Ich weiß nicht, ob Dir das aufgefallen ist, aber mehrere im Publikum haben geweint und vielleicht werden wir alle zu gegebener Zeit uns mal auseinandersetzen müssen mit unserem schamlosen Verhalten da als Erwachsene.

Ich bin ziemlich sicher, wenn ich jetzt einfach mal den Körper lese, daß sie dem Autismus-Spektrum zugerechnet werden kann. Und insofern ist die Ausgangsbasis für sie schon ein hohes Maß von Angst. Und da kommt es darauf an, wie sie das lenken kann. Sie kämpft nicht gegen ihre Emotionen an. Wie ja von vielen angesprochen wurde, macht sie das ganz toll, immer ein Stück weit die Fassung zu bewahren, also dieses Behältnis für ihre Emotionen zu haben, dabei ihr Ziel im Blick zu behalten und weiterzumachen. Und ich denke dabei an andere, die sehr spirituell ausgerichtet sind und für die das mit zu ihrem spirituellen Engagement gehört, in der Welt entsprechend aktiv zu werden. Ich glaube, Thich Nhat Hanh war ein solcher Mensch; er war es ja auch, der Martin Luther King dazu brachte, über den Vietnam-krieg zu sprechen. Und wenn man seine Reden hört, spielen die Fakten nur eine ganz kleine Rolle, der sprin-gende Punkt ist vielmehr, wie er aus der Wahrheit heraus spricht und inspiriert. Auch Nelson Mandela.

Und ich denke an meine Zeit zurück, als ich angefangen habe an der Uni, wo gerade diese „Free-Speech“-Bewegung einsetzte. Ich weiß nicht, ob Ihr davon gehört habt.

Freie Rede, es gab einen Redner, Mario Sabio hieß er, da wußte man einfach – und das galt für all diese Menschen – die Worte kamen von irgendwo anders her. Eine Tiefe, eine Offen-heit für etwas, das in dem Moment in der Kultur, ja in der ganzen Welt einfach da ist. Und weil ich ihn persönlich kenne, weiß ich, wie schwer er sich als Kind mit dem Reden getan hat, weil er überhaupt nur schwer sprechen konnte. Letzten Endes ist er in einer Psychiatrie gelandet und dort auch gestorben. Doch ungeachtet dessen konnte man sehen, wie er wirklich bei vielen Menschen etwas in Gang setzen konnte.

Das Gleiche erfahren wir ja bei Klienten oder Klientinnen von uns und auch bei uns selbst, wenn die Person aus der inneren Wahrheit heraus spricht. Das ist es, was Menschen wiedererkennen und wo sie das Gefühl erleben, nach Hause zu kommen. Es ist so, als würden sie zu sich selbst nach Hause kommen.

Und ich denke, was Greta auch sagt, das ist, daß alle den Mut und das Engagement auf-bringen müssen zu handeln. Und auch diese Menschen, an die sie sich wendet.

Sonst noch etwas, was euch dazu in den Sinn kommt rund um das Thema Mut.

Wir haben in unserer Gruppe auch noch erörtert, daß Mut nicht immer so ohne weiteres sichtbar und daher manchmal erst im Nachhinein zu erkennen ist. Das gilt z.B. für eine Person, die sich in einer Mißbrauchssituation befindet und um überleben zu können, sich betäubt. Und das ist ihre Art von Selbstschutz. Und viele Menschen würden das dann bewerten und sagen, wenn es denn so schlimm ist, warum steigst du dann nicht aus dieser Beziehung aus? Doch rückblickend wird mir klar: in dem Moment hat es einfach allen Mut erfordert, das Bestmögliche zu tun, was es brauchte, um in dieser Situation zu überleben. Und erst danach kommt man an den Punkt, wo sich der Mut umwandelt in die Handlungsschritte, die wir schon angesprochen haben. Vertrauen und Zuversicht bringen uns dann dazu, in Gang zu kommen und etwas zu verändern. Und insofern hat Mut ganz viele verschiedene Frequenzen.

Jetzt nochmal zurück zur Definition oder den Definitionen, ob Euch da etwas einfällt, was Ihr dem noch hinzufügen möchtet. Ihr habt ja schon vieles ergänzt, viele gute Sachen genannt.

Wo sie offenbar auf jeden Fall ihre Angst fühlt.

Wenn sie Angst fühlen, tun die meisten Menschen irgendetwas, damit sie weggeht. Wenn man das macht, ist das zwar eine Entlastung. Doch die Entlastung oder Er-leichterung wirkt auf das Belohnungssystem im Gehirn ein, das Dopaminsystem. Und als Folge davon schleift sich dieser Vermeidungsmechanismus immer weiter ein und wird in Reaktion auf Stressfaktoren in der Umgebung schließlich zur Gewohnheit. Doch eigentlich geht es dann darum zu fühlen, was an Gefühlen da ist und dennoch aktiv zu sein, um etwas zu tun, was der eigenen Bestimmung entspricht.

Zudem ist es unbedingt erforderlich, nicht nur im Kopf, sondern viszeral, d.h. in den Einge-weiden, um die tiefsten Sehnsüchte zu wissen, die uns antreiben, also es im Herzen und im Bauch zu spüren, so daß es über jeden Zweifel erhaben ist. Sodann die Verbindung herzustellen zu dem, wonach es mich am meisten verlangt und schließlich dementsprechend zu handeln. Das ist ein tiefgehender innerer Prozess, in dem man etwas angeht, ohne daß das eine Frage des Egos ist und ohne am Ergebnis anzu-haften. Ich denke gerade noch an etwas, was ich letzte Woche über Thich Nhat Hanh erfahren habe. Der hat eine Katastrophe, ein grauenvolles Ereignis nach dem anderen erlebt. Und auch er war eine Zeit lang in einer psychiatrischen Einrichtung, in der man Schocktherapie mit ihm machen wollte. Doch da hat er gesagt: „Kommt gar nicht in Frage!“ Danach hat er angefangen, sein inneres Verlangen zu ergründen, die Sehn-sucht, die ihn antreibt. Und auf viele Menschen, die mir begegnet sind, hat er so eine enorme Wirkung gehabt.

Die Übung besteht aus zwei Teilen. Es sind ja die Assistenten hier. Also wenn Ihr mal jemanden braucht, könnt Ihr Kontakt aufnehmen. Wenn diese Übungen was taugen, dann werden sie zwangsläufig schwieriges Material ans Licht befördern. Dazu tut Euch bitte zu dritt zusammen und überlegt, worauf diese Ängste Eurer Meinung nach zurückgehen. Also nochmal: was sind die drei oder vier größten Ängste und worauf gehen sie zurück, beispielsweise auf die Familie, die Kultur oder bestimmte prägende Ereignisse. So könnt Ihr ein Gespür dafür kriegen, wie ihr sie in eurem Körper und in euren geistigen Strukturen, im Mentalen, erlebt. Das ist ein weiterer großer Bestandteil der Entwicklungsreise.

Habt ihr noch irgendwelche Fragen? Dazu oder zu was auch immer? Und natürlich können die Assistentinnen und Assistenten selber auch Fragen stellen, weil sie oft ein Gespür haben für das, was da an Fragen aufkeimt, wo in dem Moment vielleicht noch nicht alle sind.

Ich möchte nur mal die Aufmerksamkeit lenken auf etwas, was für mein Gespür gerade hier im Raum steht. Nämlich, daß da ja die größte Angst aufgerührt worden ist, die eine Spezies überhaupt erleben kann. Nämlich die Angst vor der eigenen Auslöschung. Und ich taumle noch ein bißchen unter diesem Eindruck und bin versucht, es abzumildern. Ich möchte mich mal bedanken bei der Frau dahinten, die das gerade mit diesen Papp-bechern gesagt hat und all die kleinen Sachen, die wir entweder zu tun vergessen oder bei denen wir uns immer mal wieder eine Auszeit davon nehmen. Da kommt ein Schuldgefühl, dem ich mich jetzt einfach mal für eine Weile aussetzen werde.

Manchmal können Schuldgefühle uns aber auch von diesem inneren Erleben weg-bringen. Denn unter den Schuldgefühlen sitzt ja in der Regel Scham, was auch wie-derum zu den schwierigsten Gefühlen zählt, mit denen wir zu tun haben. Das ist oft etwas, was uns davon abhält, diesen tieferen Kontakt herzustellen. Im Zusammenhang mit diesen drei oder vier größten Ängsten ist es hilfreich, diese aufzulisten, und dabei ist die Frage wichtig, welche Beziehung Du dazu hast. Ich glaube, das ist der Punkt, den Justin gerade angesprochen hat. Was er mit seinen Ängsten anfängt, welchen Bezug er dazu hat. Und da kann es richtig kompliziert werden, wenn wir dann auf Wege stoßen, wie wir in die Vermeidung gehen oder damit Frieden schließen.

Die Kultur ändert sich im Laufe der Zeit. Wie lange komme ich jetzt schon hierher? Seit 1997 glaube ich. Und da habe ich wirklich sehr interessante Veränderungen beob-achten können in der Kultur insgesamt. Viele unserer Ängste gehen ja zurück auf unse-re Kultur, auf unsere Familie, so daß wir diesen Polizisten verinnerlicht haben, der uns sagt, was erlaubt ist und was nicht. Es gibt bestimmte Dinge, die tut man eben nicht. In gewisser Weise hilft das einer Gesellschaft und verleiht ihr Stabilität. Aber es erzeugt auch eine bestimmte Starre. Weiß der Fisch, daß er sich im Wasser befindet. Im Mo-ment, wo man ihn aus dem Wasser herausnimmt, da weiß er es wahrscheinlich. Die kulturelle Prägung kann sehr ausgeprägt sein und wirklich unter dem Radar durch-flutschen. Und von daher schaut euch nochmal an, was ihr meint, woher diese Ängste kommen.

Laßt uns mal loslegen und diese Übung machen. Wie würdet ihr reagieren? Die drei, vier größten Ängste für alle. Geht das innerlich mal durch? Ergreift dann das Wort, wenn euch ’was kommt.

Bei den Zusammenkünften der Quäker machen die das so. Sie sitzen zusammen und meditieren still. Und wenn in einer Person etwas aufsteigt, was sie der Gruppe mitteilen möchte, dann steht sie auf und teilt das mit, was aus dem tiefen Inneren kommt. Also eine Zeit lang mal einfach innerlich abwarten und dann bei Bedarf sprechen. Und ihr braucht euch dafür keine Erlaubnis zu holen.

Ich wollte nur sagen, daß Neugier mein großartigster Begleiter gewesen ist, wenn es darum ging, mich durch Angst hindurch zu navigieren. Indem ich also wirklich mit dieser Neugier und einem gewissen Staunen auch an die Angst herangehe, um sie zu er-kunden, hat das wirklich eine Öffnung herbeigeführt.

Da ist etwas, was mir bis dahin nicht bewußt war, dann treffe ich die Entscheidung, ob ich es ändern möchte oder nicht. Wenn bis dahin etwas destruktiv war oder durch mein Verhalten Störfelder waren in meinem Leben oder im Leben anderer Menschen.

Ich merke, daß meine Angst, nichts zu fühlen, größer ist als meine Angst, die Angst zu fühlen. Und dann würde ich diese Übung jetzt gerne machen, weil ich auch neugierig bin, aber auch so ein Heimkommen erlebe, wenn ich es erlebe, daß ich es fühlen kann.

Bei diesem Stillwerden gerade ist ganz viel Energie hochgekommen und ganz viel Wut, vom Erleben her richtig groß. Und fast war es mir danach zu schreien.

Als ich mir vorgestellt habe, die Übung zu machen, kam als erstes in meinen Kopf große Verwirrung auf. Ich hatte den Eindruck, mich nicht zu erinnern, wovor ich Angst habe. Gleichzeitig hat sich in meinem Körper die Angst ausgebreitet. Der Herzschlag ging hoch, die Arme wurden wie gelähmt und die Angst wurde immer größer, aber ich konnte es nicht halten. Ein bißchen neugierig war ich auch. Das schaffe ich nicht alleine – war mein Gefühl.

Bei mir war das erste Wort Hingabe zu einer Form der Metamorphose.

Ich hatte Angst, mich der Aufgabe zu stellen. Und es kam auch unheimlich viel Energie. Dann habe ich gemerkt, ich bin nicht allein. Und dann wurde mir klar, daß ich es bisher überlebt habe.

Was ich erfahren habe, fühlte sich an, wie innerlich schreien zu können, das ist fast so, wie wenn ich wahnsinnig werden könnte, also etwas Wahnsinniges tun könnte. Aber plötzlich hat sich dann etwas verschoben – wie umgeschaltet – und ich weiß jetzt nicht warum, derweil war so eine innere Verbundenheit da und gleichzeitig eine Verbun-denheit mit anderen.

Ich habe jetzt in der Stille gemerkt, daß eben die Stille für mich das wichtigste Behältnis ist, um meine Ängste zu konfrontieren oder mit meinen Ängsten zu sein.

Was mit großer Wahrscheinlichkeit in eurer praktischen Übung auftauchen wird, ist folgendes: Angst – oder auch andere Emotionen – werden zum Auslösereiz, wodurch Schutz- und Abwehrmechanismen ausgelöst werden, die wohlorganisiert und struk-turiert sind und sich mit zunehmender Wiederholung immer weiter festfahren. Der springende Punkt ist dabei eben dieser Wiederholungsmechanismus. Jedes Mal, wenn wir uns auf eine bestimmte Weise verhalten, indem wir z.B. eine Emotion vermeiden, verstärkt sich dieses Muster. Daß sich ganz schnell die bestehende Anspannung löst, erleben wir als Belohnung. Dann werden Dopamin und Noradrenalin ausgeschüttet und wir fühlen uns besser. Das ist jedoch nur temporärer Natur, weil die Emotion selbst natürlich nur überdeckt ist.

Trigger is Fear (and self-criticism)-3This activates defensive circuits 
(which are highly organized and structured by repetition)", The reward 
(motivation) is a quick release of the tension. This release is only 
temporary and doesn't allow us to move into new possibilities

These reactions are organized by the Basal Ganglia in the 
Extrapyramidal Motor system

Das alles ist organisiert in einem Zentrum im Gehirn, das als das extrapyramidale Zentrum bezeichnet wird. Die Neuronen in den höheren Regionen des Cortex haben in ihrem Umfang bestimmte Zellkörper, die so ähnlich aussehen wie Pyramiden. Aber die Schutz- und Abwehrreaktionen werden von den sogenannten Basalganglien organisiert, einem System, das unterhalb des Cortex angesiedelt ist.

Und das zeige ich noch. Wir können uns also die Basalganglien sozusagen als Kommandozentrale vorstellen für alle unsere Verhaltensweisen, jedenfalls für alle unwillkürlichen Verhaltensweisen.

We can think of the Basal Ganglia (BG) as a kind of "command central" 
for all of our behaviors ("B")1 They pick up what is happening on the 
body ("S") as well as in the environment ("I"). When the BG registers 
fear ("A") or "self-doubt" ("M") its job is to release the tension that the 
emotion triggers. This is experienced as relief and is something that we 
seek. It is also what keeps us stuck in repetition.

Und das ist das B (Behavior) im SIBAM-Modell, also das Verhalten. Die Basalganglien kriegen also mit, was sich im Körper tut, d.h. die Verarbeitung all der Sinneswahr-nehmungen aus der Umgebung, größtenteils in Form von Bildern im weitesten Sinne. Und wenn die Basalganglien Angst wahrnehmen, was ja ein Affekt wäre, also A, oder Selbstzweifel, was im SIBAM-Modell M wäre (Meaning), also Bedeutung, dann ist ihre Aufgabe, die Anspannung aufzulösen, die von den Emotionen ausgelöst wird.

Die Auflösung der Anspannung wird natürlich als Erleichterung erlebt, als das, was wir anstreben. Doch gleichzeitig sorgt genau das dafür, daß wir immer wieder im gleichen Verhaltensmuster stecken bleiben. Durch die stetige Wiederholung bleiben wir darin stecken.

Vielleicht kennt Ihr das ja aus dem schönen Text von Bob Dylan, wo er etwas Ähnliches mit dem Blues besingt, eben dieses ewige Steckenbleiben bei der Mama. Ob ihm das so klar ist, sei dahingestellt, aber indem er uns dieses Lied vorspielt, geht er genau darauf ein.

Der Globus Pallidus als Teil des extrapyramidalen Systems ist eine Struktur oder ein Gebilde im Gehirn, das beteiligt ist an der Initiation und Regulation von willkürlichen Bewegungen. Man kann sagen, daß er sozusagen an der Schnittstelle zwischen willkür-lichen und unwillkürlichen Bewegungen sitzt, bewußten und unbewußten. Und er ist ein Teil der Basalganglien, die neben vielen weiteren Aufgaben die Bewegungen regulieren, die auf der unbewußten Ebene auftreten.

Ist der Globus Pallidus geschädigt – davon werde ich noch Bilder zeigen, wie das aussieht – dann kann das Bewegungsstörungen auslösen, weil seine regulatorische Funktion dadurch beeinträchtigt wird.

Und ich denke, das ist ein Aspekt, der bei der Parkinson-Erkrankung beteiligt ist. Es mag Fälle geben, bei denen diese Schädigung gezielt herbeigeführt wird, z.B. bei Tieren. Es ist manchmal sogar auch bei Parkinson-Behandlungen schon eingesetzt worden, also auch bei Menschen, wo man diese Region ’rausgeschnitten hat. Das reduziert dann das unwillkürliche muskuläre Zittern. Ich persönlich denke, daß das keine gute Idee ist.

Eine bessere Idee wäre es, erst mal SE zu praktizieren und dann in größeren Tiefen im Gehirn ein Implantat einzusetzen, das die unwillkürlichen Bewegungen, dieses Zittern, reduziert. Ich glaube nicht, daß es eine gute Idee ist, eine Hirnregion gezielt zu schädigen.

Der Globus Pallidus hat hauptsächlich eine hemmende Funktion, und er arbeitet mit dem Kleinhirn zusammen, übernimmt mehr die regulatorische Funktion. So heißt es zumindest, aber ich kann das nicht so richtig glauben. Ich denke, die wirken zusammen. Das Kleinhirn hat ja ganz viele komplexe Funktionen. Eine Stimulation der mittleren Region des Kleinhirns reduziert de facto die Aktivierung der Amygdala. Indem Regionen stimuliert werden, die für das Lustempfinden zuständig sind, Vergnügungszentren. Aber ich stimme schon zu, daß die beiden sich – harmonisch aufeinander abgestimmt – entwickeln, um glatte Bewegungen durchführen zu können. Trotzdem kann man natür-lich die Frage stellen, was passiert denn, wenn sie nicht harmonisch abgestimmt sind. Solche Ungleichgewichtsverhältnisse können zu ruckartigen Bewegungen, zu Zittern und anderen Bewegungsproblemen führen, wie man das bei einigen Menschen mit progressiven neurologischen Störungen beobachten kann, zu denen Symptome wie Tremor als Merkmal gehören.

Imbalances can result in tremors, jerks, and other movement problems, 
as seen in some people with progressive neurological disorders 
characterized by symptoms like tremors. The basal ganglia acts on a 
subconscious level, requiring no conscious effort to function. When 
someone makes a decision to engage in an activity such as petting a 
dog, for example, these structures help to regulate the movement to 
make it as smooth as possible, and to respond to sensory feedback. 
Likewise, the globus pallidus is involved in the constant subtle 
regulation of movement that allows people to walk and engage in a 
wide variety of other activities with a minimal level of disruption.

Die Basalganglien funktionieren auf der unterbewußten Ebene und erfordern keine bewußte Anstrengung, um zu funktionieren. Der bewußte Anteil besteht darin, daß wir unsere Hand hinsteuern zu einem Hund oder auch zu einer Katze, aber das Streicheln selber kommt vom extrapyramidalen System, also von den Basalganglien. Vielleicht wollt Ihr damit experimentieren, indem ihr mal ganz bewußt ein Tier tätschelt oder streichelt. Wenn ihr das nicht bewußt macht, dann wird das Tier wahrscheinlich sehen, daß es wegkommt, weil es das langweilig findet.

Die Basalganglien ermöglichen uns, viele Dinge zu tun, die unbewußt ablaufen müssen. Jedoch kann das dann auch genau der Ort für rein reaktive Verhaltensweisen sein. Wie schon angesprochen, ist die Wiederholung das Problem, weil sich dadurch automati-sche Reaktionen immer mehr verstärken.

Die entscheidende Frage ist, wie wir in diesem Grenzbereich zwischen bewußten und unbewußten Prozessen neue Prozesse ausbilden können. Letzten Endes geht es da-rum, neue Reaktionen auszubilden, neue Verhaltensmuster. Ich glaube, darin liegt die Freiheit.

Noch einmal zurück. Hier haben wir den Hirnstamm, das Mittelhirn, das Kleinhirn, dann haben wir den Thalamus, wo erst mal alle Informationen ankommen, sowohl jene von inneren Vorgängen als auch jene von äußeren Ereignissen. Und der Thalamus ist auch in Kontakt mit der Substantia nigra, die unmittelbar über der Spitze des Hirnstamms lokalisiert ist. Globus Pallidus ist hier.

So würde das aussehen, wenn das Gehirn durchsichtig wäre und man – wie in der Mitte durchgeschnitten – ins Gehirn hineinschauen könnte.

Also nochmal, der Globus Pallidus hier, Putamen links und hier ist der Thalamus. Und da haben wir die Substantia nigra (SN) die oberhalb des oberen Endstammes war. Dann haben wir das Mesencephalon (Mittelhirn) im vorderen Bereich – Rückenmark kann man nicht mehr sagen – und es kann sich positiv wie auch negativ auswirken auf das Putamen und von dort besteht wiederum eine Verbindung zum Thalamus, die auch weiter zum Cortex Cerebri geht, zur Hirnrinde.

Und dieses ganze System entwickelt bestimmte Muster, die geprägt sind von dem, was wir wiederholt erleben. Wenn z.B. oft Gefahr besteht, dann reagiert das System immer so, als bestünde Gefahr.

Was hier nicht vorkommt: auch die Hirnrinde übt einen gewissen Einfluss aus auf die Basal-einheit. Es ist ganz nützlich, sich das mal so anschaulich vor Augen zu führen.

Und es ist auch wichtig zu bemerken, wie primitiv das im Grunde ist. Denn obwohl alle Informationen im Thalamus ankommen, durchlaufen die erstmal den Globus Pallidus. Und Ihr kennt das – bestimmt nicht von Euch selbst – aber vielleicht von Eurem Mann oder Eurer Frau oder sonst jemandem, wenn die Person plötzlich anfängt herumzu-schreien. Vielleicht war irgendeine Kleinigkeit der Auslöser, weil der Partner oder die Frau etwas gemacht hat, und dann kommt so eine explosive Reaktion. Die meisten Menschen haben die Fähigkeit, dazu einen gewissen Abstand zu wahren, aber gerade wenn frühe Traumen vorliegen, ist diese Fähigkeit beeinträchtigt. Liegt darin vielleicht ein Grund, warum Borderliner so sehr zu kämpfen haben? Die schaffen es nicht, genug Abstand herzustellen zu dem, wozu es sie aufgrund dieser Schaltkreise drängt. Je häufiger solche Muster, solche Verhaltensweisen unkontrolliert hervorbrechen, umso schlimmer wird das Ganze. Explosive Verhaltensweisen werden so zu festen Mustern.

Wenn wir dazu anleiten, ein bißchen Abstand zu solchen Emotionen zu gewinnen, dann ist das eine ganz heikle Angelegenheit und kann schnell auf Ablehnung stoßen. „Ich will nicht, daß Sie mir meine Emotionen wegnehmen.“ Die Borderline-Persönlichkeit wird ganz zu der jeweiligen Emotion, statt die Emotion zu haben oder sie zu erleben. Und das ist heftig, weil die Person, solange sie diesbezüglich nicht ausreichend an sich ge-arbeitet hat, ja gar keine andere Möglichkeit hat, als sich so zu verhalten.

Auch bei uns werden solche Schaltkreise aktiviert, wenn uns etwas aufregt oder wir automatisch reagieren, und das gilt es anzuerkennen.

Ich möchte jetzt auf die Frage zurückkommen, wie wir dieses System aus Auslösereiz und automatischer Reaktion verändern können. Das wird dann Eure Aufgabe sein.

Das war ja auch Thema in dem Kurs, in dem es um’s authentische Selbst ging, wo es also um die Suche nach neuen Bahnen geht, auf daß nicht mehr alles automatisch und unbewußt abläuft.

Mich macht dieses Diagramm jetzt neugierig, vor allem die rechte Seite. Was wird versucht, damit darzustellen?

Also ich denke, es werden verschiedene Bahnen, verschiedene Weiterleitungsmög-lichkeiten aufgezeigt und das Diagramm kann nicht alles gleichzeitig darstellen und in-sofern gibt es bestimmte Sachen, die auf der rechten und bestimmte, die auf der linken Seite dargestellt werden. Auf der rechten Seite wird, denke ich, auch veranschaulicht, wie dabei die Fließrichtung jeweils ist, also wie die Rückmeldung funktioniert. Auf der linken Seite sehen wir, wie die Informationen durchlaufen und auf der rechten Seite sehen wir, was zurückkommt. Aber in gewisser Weise sind die linke und die rechte Seite gleich. Es ist nicht so, daß die eine Seite anders sei als die andere.

Ich habe hier angesprochen, daß hier ein Punkt nicht dargestellt worden ist, nämlich daß von der anderen Richtung – von der Hirnrinde her – auch Impulse kommen, also nach innen in dieses System.

Und vor allem das interessiert mich, weil Untersuchungen mit funktioneller Magnetresonanz-tomographie (engl. fMRI) zeigen, daß Achtsamkeitspraktiken durchaus Einfluss haben. Das ist dann Wiederholung von der anderen Seite. Aus diesem Grund haben Meditationspraktiken immer auch ’was mit Wiederholung zu tun und sind daher unentwegt zu praktizieren, egal was man gerade macht, also wenn man im Zug sitzt oder bei jemandem zu Besuch ist oder was auch immer. Damit prägt man dann die Basalganglien in entgegengesetzter Richtung, nämlich positiv zu reagieren.

Dazu gibt es ja so viele Geschichten von Zen-Meistern oder Meisterinnen, wo sich Schlimmes und alles nur mögliche Chaos ereignet, und der Zen-Meister oder die Mei-sterin ist einfach nur da.

Wenn wir Klienten helfen wollen, sich zu entwickeln, ist SE ein gutes Werkzeug. Manche sagen, SE braucht eigentlich nur eine Sitzung. Und in manchen Fällen stimmt das auch ein Stück weit. Wenn es um ein einmaliges Trauma geht, das in späterem Alter passiert ist, mag das auch zutreffen. Doch wir öffnen dadurch eine Tür, was aber nicht automatisch bedeutet, daß die Person mit diesem einen Mal auch durchgeht bis auf die andere Seite. Hier kommt wieder die Praxis, das Üben ins Spiel.

Ich denke, Suchtthemen, Drogen und andere Süchte, auch Sexsucht, könnten damit zu tun haben.

All das ist ja aktiv, all das wirkt ja über das Belohnungszentrum und es fühlt sich gut an und deswegen nimmt man dann immer mehr, mehr von den Drogen, mehr von solchen sexuellen Begegnungen, es bildet sich dafür eine Toleranz, so daß man immer mehr davon braucht.

Das ist ja eine Sache, die man mit bildgebenden Verfahren im Hinblick auf Handys oder Smartphones untersucht hat. Über das Smartphone kommen immer wieder Impulse, die sofort die Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen; dann kommt eine SMS und man schaut nach, ob das was Positives oder was Negatives ist. Fortwährend erhält der Nutzer Eingebungen von außen. Dazu habe ich ein Interview gehabt mit einer psychologischen Fachzeitschrift in London, wo es darum ging, welch starker Sog von diesen Geräten ausgeht, die zugegebenermaßen auch eine feine Sache sind, wenn ich sie benutze, um das Taxi zu bezahlen, um mich zu orientieren und einen Weg zu finden oder der-gleichen. Allerdings hat man in einem Versuch Folgendes herausgefunden:

Den Leuten wurde die Wahl angeboten zwischen einer positiven Erfahrung, wenn sie es schaffen, die Finger vom Smartphone wegzulassen, und einer negativen, wenn sie es nicht schaffen. In positiven Fall hat man ihnen 10 Dollar bezahlt. Im negativen Fall, also wenn sie es nicht geschafft haben, das Handy aus der Hand zu lassen, bekamen sie einen Elektro-schock. Und die Leute haben es vorgezogen, das Handy anfassen zu können und lieber den Elektroschock zu kriegen, anstatt 10 Dollar zu bekommen und die Hände wegzulassen vom Handy. Wenn das keine Sucht ist, dann soll mir mal einer verraten, was eine Sucht ist.

Mit diesem Foto ist irgendwie alles gesagt: wie dieses Gerät die Menschen aus dem Kontakt miteinander ’rausbringt, das ist ganz gefährlich.

Es geht also wie gesagt darum, daß jede Person einmal die Gelegenheit hat, sich mit drei bis vier ihrer zentralen Ängste auseinanderzusetzen. Eine Person in der Dreiergruppe übernimmt dabei die Rolle des Therapeuten oder der Therapeutin und kann gelegentlich mal etwas zurückmelden, z.B. im Hinblick auf die Körperhaltung, was sich da verändert, bei der Atmung, bei der Hautfarbe, bei der Herzfrequenz usw.. Größtenteils ist die erste Person aber sich selbst und ihrem Erleben überlassen. Die dritte Person hat die Aufgabe mitzuschreiben, d.h. die Ängste, weitere Mitteilungen und eventuelle Rückmeldungen zu notieren. Ihr solltet das alles aus einer Neugier-Haltung heraus angehen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist es, welche Beziehung die Person zu diesen Ängsten hat. Der nächste Teil der Übung ist nicht so ganz einfach, da braucht ihr wahrscheinlich die Unterstützung der anderen beiden in der Gruppe. Da geht es näm-lich darum, sich anzuschauen, woher diese Ängste wohl kommen, das nach Möglichkeit zutage zu befördern und auch die Zeit dafür einzuräumen, daß die erste Person anlan-den und zur Ruhe kommen kann.

Exercise 1:
What are your 3 or 4 biggest fears (listing them) and how to you relate 
to them (curiosity)?

Exercise la: Where do you think that taw fears corm. from (0 g. 
family, culture or formative events)?

Ihr sollt anfangen mit etwas wie diesem tiefen Wunsch, damit wird es eher möglich, sich einzuschwingen und wichtig ist auch, daß Ihr Euch nicht gezwungen fühlt, jetzt diese Übung machen zu müssen; wenn Euch nicht danach ist, dann könnt ihr auch erstmal aussetzen, vielleicht wollt Ihr sie später noch machen. Das ist nicht leicht, es sieht einfach aus, aber es ist es nicht. Wenn Euch etwas schwierig vorkommt oder schwer, dann macht euch keine Gedanken – das ist so gedacht und wir werden dafür 30 - 40 Minuten verwenden.

Häufig stellt sich heraus, daß die Klienten unter Entwicklungstraumen leiden, die sich so ziemlich durch alles durchziehen und das muß ich natürlich dann aufgreifen, aber gleichzeitig muß ich auch das Element des Mutes einbeziehen: paßt Mut in dieses Bild? Ich bin sicher, das habt Ihr in Eurer eigenen Praxis schon ganz ganz häufig gemacht, nur hier mache ich das mal explizit, das Thema Mut, was sonst oft implizit im Raum steht. Mut ist ja so wichtig bei starken Depressionen, negativen Rückmeldungen oder dem Gefühl, ignoriert zu werden.

Nehmt Euch auch Zeit, dem Klienten oder der Klientin nochmal zurückzumelden, was die Beobachterperson aufgeschrieben hat. Und setzt die elementaren SE-Werkzeuge dabei ein.

Vielleicht sagen Sie ein bißchen ’was zu Ihrem Hintergrund und wie weit Sie in der SE-Ausbildung sind.

Mein Schwerpunkt ist die Feldenkrais-Arbeit. Die SE-Ausbildung habe ich 2005 abgeschlos-sen. Ich arbeite immer wieder damit, wenn ein Trauma auftaucht. In den Behandlungen arbeite ich sehr viel mit den Händen, und da die Berührung in der SE-Arbeit sehr im Vordergrund ist, leite ich dann den Prozess eher ohne viel Worte. Wenn Themen zu groß sind oder Traumen zu viel Arbeit von mir fordern, leite ich die Leute gerne weiter an Erfahrenere.

Judith habe ich vor 10 Jahren kennengelernt und das war mitten in der Chemotherapie nach einem schweren Krebs am rechten Oberschenkelknochen. Diese Krebs-Art heißt Ewing-Sarkom-Pet. Sie hatte ein halbes Jahr Chemotherapie, dann eine Operation und nochmal ein halbes Jahr Chemotherapie. Ihre Mutter rief mich nach der OP an und bat mich inständig, daß ich mit ihr arbeiten solle. Da ich mit meiner Arbeit sehr viel auf Reisen bin, habe ich erstmal abgelehnt, aber Judith tauchte einfach auf. Wir haben dann doch miteinander gearbeitet.

Wenn ich dem einen Stempel aufprägen wollte, dann stünde da schon Mut drauf, wirklich so ein Verlangen nach Leben, so ein absoluter Lebenswille.

Genau, das hat Judith mir auch erzählt, als ich ihr sagte, daß sie herkommen kann, haben wir nochmal ein längeres Gespräch gehabt, da sagte sie mir, daß sie in ihrer Jugend sehr, sehr unsicher in ihrem Leben war und manchmal auch an Suizid gedacht hatte. Als dann der Krebs auftauchte – das passierte in einem Moment ihres Lebens, wo sie ganz glücklich und als Tänzerin und Choreografin sehr erfolgreich war und ihre ganze Arbeit zu blühen anfing; auch war sie in einer festen, schönen, glücklichen Beziehung. Als dann dieses Sarkom an dem Bein über Nacht auftauchte und ihre Kollegen und eine Ärztin sie – an einem Samstag – sofort ins Krankenhaus schickten, konnte sie das gar nicht einordnen. Sie hat das nicht ganz ernst genommen, weil sie so glücklich war. Sie hatte mir gesagt – das fand ich sehr bemerkenswert – sie hatte das Gefühl, daß diese Situation sie an einen Punkt bringt, wo sie nochmal – im Vergleich zu ihrer Jugend – eine ganz neue Entscheidung fürs Leben treffen muss. Da war für sie nochmal ein ganz großes Feld gefragt. Das Bein wurde sehr großräumig operiert, zehn Zentimeter Knochen herausgenommen, ein großer Teil von dem Vastus medialis, danach ein halbes Jahr Chemotherapie, die Blutwerte waren sehr wackelig. Und ich habe sie dann nach der OP behandelt, mit sehr viel Heilkraft hat sich das stabilisiert. Dann folgten um diesen Knochen und die Verlängerung des Beines noch elf Operationen. Die letzte Operation war vor drei Wochen. Es fehlten klärende Gespräche darüber, was die Ärzte machen. In dem Bein war im Knie ein langer Stab eingesetzt worden, der locker wurde, und dann war wieder eine große Entscheidung nötig, was machen. Und da hat sie dann einen Arzt gefunden, dem sie sehr vertraute, und der mit ihr eine neue OP-Methode ausprobieren wollte, die im Moment noch einmalig in der Welt ist. Dabei wird der Knochen nochmal an einer anderen Stelle durchtrennt und mit einem Magneten wird Knochenmasse aufgebaut. Dadurch hatte sie (ich weiß es jetzt nicht ganz genau) 13 oder 15 Zentimeter Knochen-Länge vom Bein wieder erreichen können. Aber an der Stelle, an der man ursprünglich operiert hatte, hatte sich so etwas wie eine Arthrose gebildet und zwar im Knochen an der ursprünglichen Schnittstelle. Und an der Stelle gab es einfach keine Heilung. Das ist jetzt schon lange her, und auch jetzt heilt es immer noch nicht. Da ist also immer ein Spalt und das Bein hat keinen Halt, so daß das Knie über bestimmte Schrauben gehalten werden musste. Nun war vor drei Wochen die letzte OP und Judith ist ziemlich alle. All die Narkosen und immer wieder die Hoffnung, ob es diesmal klappt.

Weißt du, ob sie Dormicum bekommen hat?

Ich habe ihr sofort, nachdem ich wußte, daß sie das nicht benutzen darf, gesagt, sie soll es auf jeden Fall verhindern. Ich weiß aber nicht, ob es in der ersten OP, wo ich sie ja noch nicht kannte, benutzt wurde.

Wahrscheinlich ja.

Und jetzt ist es so, daß sie für eine nächste OP keine Kraft mehr hat, falls nochmal eine nötig wäre. Nach jeder Narkose wurde es für sie schlimmer, und sie ist immer aggressiver geworden.

Das läßt mich an Dormicum denken.

Und jetzt war vorgestern eine Kontrolluntersuchung und da sah diese Stelle, die eben all die Jahre bis heute nicht geheilt ist, auch nicht gut aus. Der Arzt ist sehr positiv und macht ihr Hoffnung. Im Lauf der Jahre hat sie beobachten gelernt und hat auch gelernt, Röntgenbilder zu lesen. Und jetzt ist die Stelle, um die es geht, mit einer Eisenplatte fixiert. Eine andere Stelle ist derzeit nochmal in Behandlung mit dem Magneten, weil das Bein über die letzten OP’s immer noch 5 cm kürzer geworden ist. Weil ich sie nicht so betreuen konnte wie nötig, habe ich ihr dann vorgeschlagen, in meine Feldenkreis-Ausbildung zu kommen. Damit sie einfach in diesem Feld ist und so viel mitmacht, wie sie kann. Und von mir und Assistenten so viel Einzelunterstützung bekommen kann, wie sie braucht. Und da sie Tänzerin ist, waren die Feldenkreis-Bewegungen für sie eine Labsal und eine Gelegenheit, sich wieder ganz anders zu erleben. Ich habe immer wieder Narben behandelt, wovon es nicht wenige gibt und mit Narkose gearbeitet.

Wenn du bei der Palpation die Knochen befühlst, was nimmst du da wahr?

Die Muskeln waren anfangs immer sehr verhärtet und die Narbenbildung war auch, je nachdem wie der Schnitt lag, komplex und problematisch, wulstig und an manchen Stellen nicht heilend. Und in dieser Situation war es ganz wichtig, daß sie dieses Bein wieder annimmt, um auch darauf zu stehen. Und das war viel Arbeit, da sie ja Jahre an Krücken ging und daran gewöhnt war (was natürlich nicht ihre Schuld ist).

Ich bin mir sicher, mit Ihrer Sensibilität konnten Sie da auch hineinspüren in den Knochen und auch das Wachstum fördern?

Das habe ich auch immer wieder gemacht. Sie bat mich auch immer wieder, nur die Hände auf die Stellen zu legen. Ich habe die Hände immer so lange da gelassen, bis ihr ganzes System wieder zur Ruhe kam. Auch die Achsen (also das Becken). Sie wünscht sich jetzt sehr herauszufinden, was in ihr ist, daß dieser Knochen jede Heilung so stoppt. Natürlich hat sie immer wieder auch große Angst, das Bein ganz zu verlieren. Während dieser manchmal bis zu acht Stunden langen Operationen, kam dann schon der Gedanke, das Bein ganz ab-nehmen zu lassen, damit sie endlich Ruhe habe. Diese Gedanken sind auch realistisch, aber natürlich nicht hilfreich. Sie ist jetzt Anfang 40. Als sie hörte, daß ich hier in der Weiterbildung bei Dir bin und sie schon ein paar mal bei Dir auf der Warteliste für Einzelstunden war, hat sie sich sehr gefreut, daß sie jetzt kommen kann.

Dann bring sie mal herein.

Noch mal zur Erinnerung, generell bei Leuten, die zuvor eine Demo gehabt haben: Sprecht sie danach nicht an und versucht nicht, sie in ein Gespräch ’reinzuziehen, es sei denn, sie kommen von sich aus damit an.

Und das ist der Schlüssel, herauszufinden, wo sie sich im Heilungsprozess selber stoppt, wo sie sich ausbremst. Das ist das Muster, das es – da am Bein – zu erkennen gilt.

Und anfangs habe ich diesen Bruch wirklich gespürt. Und in beiden Beinen hat der akute Schmerz da, wo die Schrauben aufhören, ständig so einen Strom hergestellt. Der Strom kam mit dem Vater und dem Herz und auch schon, als die linke Hüfte freier wurde. Und meine Hände hatte ich die ganze Zeit ganz leicht aufgelegt. Das Bein hat meine Hände so richtig ’reingesogen.

Natürlich kann man nicht sagen, ob das hier wirklich der Fall sein wird, aber ich habe es ganz oft erlebt, daß so etwas wie hier den Verlauf einer Krankheit wirklich verändert. Wenn man an den Punkt herankommt, wo das Ganze immer wieder blockiert und ins Stocken gerät.

Der Strom war einmal unterbrochen, als die Mutter dran war, aber dann hat er sich wieder hergestellt und fühlte sich auch stabiler an.

Sie hat nicht gezögert, als sie herunterging. Beim Gehen hat sie etwas Schwingendes gehabt. Sie ist eine Süße und ich kann gut nachvollziehen, daß du nicht umhin kamst, mit ihr zu arbeiten.

Es war immer in großen Abschnitten, weil ich so viel weg war und reiste. Das letzte halbe Jahr habe ich sie nicht gesehen. Sie hat auch sehr viel meditiert in der letzten Zeit, vielleicht zu viel. Vielen, vielen Dank.

Gerne. Also das gibt noch mal mehr eine Vorstellung davon, wie man mit der Frage arbeiten kann, woher die Ängste kommen, wenn ihr damit arbeitet.

Es war ja ein sehr wichtiger Punkt, als Du das angesprochen hast, mit der Vier-Fünf-Jährigen. Warum ausgerechnet vier, fünf Jahre? Was hat Dich dazu bewegt?

Es war etwas daran, wie sie gegangen ist. Ich beobachte Kinder ganz viel. Ein Freund hat mich schon gewarnt, daß ich dafür in den Vereinigten Staaten inhaftiert werden könnte, wenn ich Kinder so aufdringlich anschaue. Und von daher habe ich immer ein Buch vor der Nase, wenn ich da so in der Nähe bin.

Könntest du das noch ein bißchen genauer sagen, was dich darauf gebracht hat?

Also ich wußte, irgendwas ist da passiert, so mit vier, fünf Jahren. Und als Vierjährige, da drückt sich ja in ihren Bewegungen so etwas aus wie: „Schaut mich an“. Und dann bei der Fünfjährigen ist alles ausgebremst. Da kriegen wir schon einen Zugang zu dem zugrundeliegenden Muster, so festzustecken.

 

Transkription des Vortrags von Peter Levine (siehe oben). Die Konsekutiv-Übersetzung wurde von Ekkehard Ortmann in einer Gemeinschaftsleistung von Hund und Eule – von treuem Durchhaltevermö-gen und scharfsichtiger Weisheit – im September / Oktober 2024 ergänzt und gründlich überarbeitet.