Psyche schaut in den Spiegel

Psyche schaut in den Spiegel Manuskript zum Vortrag vom 10.3.1998 am Bildungszentrum der Stadt Nürnberg Verfasser: Ekkehard Ortmann

Zur Einführung in unser Thema möchte ich Ihnen in geraffter Form einen Mythos aus der antiken griechischen Götterwelt, den Mythos von Eros und Psyche erzählen:

Psyche ist eine menschliche (und das heißt hier: eine sterbliche) Prinzessin von so bemerkenswerter Schönheit, daß sie die Eifersucht der Liebesgöttin Aphrodite auf sich zieht. Aphrodite galt in der Antike als der Inbegriff weiblicher Schönheit und Anmut, und so unterstreicht Aphrodites Eifersucht die herausragende Schönheit Psyches nur noch deutlicher. Aphrodite beauftragt ihren Sohn Eros, den männlichen Liebesgott, die schöne Sterbliche dem Tode zu überantworten. Eros trägt stets einen Bogen und Pfeile bei sich, die ihm die Macht verleihen, das Herz eines Sterblichen oder eines Unsterblichen in plötzlicher Liebe entbrennen zu lassen. Von Psyches Schönheit ist er so überwältigt, daß er stolpert und sich selbst an einem seiner Pfeile sticht. So verliebt sich der unsterbliche Gott Eros in die sterbliche Psyche. Natürlich bringt er es nun nicht mehr übers Herz, Psyche auftragsgemäß dem Tode anheimzugeben.

Unter dem Eindruck einer Orakel-Weissagung (in einem Orakel-Spruch heißt es, „ihre Bestimmung sei es, Beute eines Ungeheuers zu werden“) befindet sich Psyche in Erwartung ihres Todes. Doch plötzlich fühlt sie sich sanft vom Wind emporgehoben und zu einem herrlichen Palast getragen.

Als es Nacht wird und Psyche müde einschlummert, kommt in der Dunkelheit ein männliches Wesen über sie (nämlich Eros) und erklärt ihr, daß er der Gemahl sei, für den sie bestimmt sei. In der Dunkelheit kann sie seine Gesichtszüge nicht erkennen, hört und spürt jedoch die Zärtlichkeit in seiner Stimme, seinen Worten und seinen Berührungen. So fügt sie sich in ihr Schicksal und gibt sich dem geheimnisvollen Gemahl hin. Als die Dämmerung anbricht, verschwindet ihr rätselhafter Liebhaber, nachdem sie ihm zuvor das Versprechen geben mußte, daß sie niemals versuchen werde, sein Gesicht zu sehen.

Psyche genießt die Nächte mit ihrem Gemahl, der als Liebesgott ihre tiefsten Wünsche und Sehnsüchte zu erfüllen vermag. Die Tage verbringt sie in Gesellschaft ihrer beiden Schwestern, die aus Mißgunst Argwohn in ihr Herz säen. Ihr Gatte müsse ja ein scheußliches Monster sein, daß er sich so vor ihren Blicken verberge. Psyche ist schließlich von Argwohn und Zweifel so vereinnahmt, daß sie eines Nachts entgegen ihrem Versprechen eine Öllampe entzündet und diese über das Gesicht ihres schlafenden Gatten hält. An Stelle des befürchteten abscheulichen Ungeheuers schaut sie auf einen wunderschönen Mann, eben Eros, den Liebesgott. In freudigem Erschrecken stolpert auch Psyche und verletzt sich an einem der Pfeile, die Eros neben dem Bett zusammen mit seinem Bogen abgelegt hat. Erst jetzt verliebt sich auch Psyche unsterblich in den jungen Gott. Bis dahin hatte sie ihn nur akzeptiert, weil sie sich von ihm geliebt fühlte. Während Psyche ihr Gleichgewicht verliert, verschüttet sie heißes Öl aus der Lampe auf den schlafenden Eros, der sofort erwacht. Eros hält Psyche den Bruch ihres Versprechens vor und verschwindet im nächsten Augenblick.

Auch der Palast löst sich vor Psyches Augen in Nichts auf, und Psyche findet sich einsam und verlassen in einer schrecklichen Einöde wieder. Zunächst will sie sich das Leben nehmen, doch dann durchwandert sie auf der Suche nach ihrem verlorenen Geliebten die ganze Welt. Von Aphrodites Zorn verfolgt und von schweren Schicksalsschlägen heimgesucht, gelingt es ihr mit der Hilfe von Naturgeschöpfen, - den Ameisen, den Vögeln, dem Schilfrohr -, alle Schwierigkeiten glücklich zu überstehen. Schließlich steigt sie sogar in die Unterwelt hinab, deren Zugang eigentlich jedem Lebenden verwehrt ist.

Eros, der nie aufgehört hat, Psyche zu lieben und zu schützen, ist von der geduldigen und beharrlichen Suche seiner Gattin gerührt und bittet Zeus, Psyche zu ihm zurückkehren zu lassen. Zeus stimmt zu und verleiht Psyche die Unsterblichkeit. Aphrodite vergißt ihren Groll, und die zweite Hochzeit der beiden Liebenden wird im Olymp mit großer Freude gefeiert.

Psyche schaut in den Spiegel.

Psyche heißt „Seele“ bzw. wörtlich „Hauch / Atem“, und damit ist die enge und untrennbare Verbindung zwischen dem Atemfluß und dem Seelenleben bereits angedeutet. Psyche schaut in den Spiegel. Das heißt, die Seele will sich selbst erkennen, sie will sich ihrer selbst bewußt werden. Der Mythos ist einer Bühne vergleichbar, auf der die verschiedenen Anteile der Menschenseele durch Figuren verkörpert sind, und ihre Entwicklungsgeschichte in einem ergreifenden Drama dargestellt ist. Im Mythos ist Psyche eine sterbliche Frau, wunderschön zwar, ja von göttlicher Schönheit, aber sterblich. Sterblich am Menschen ist der Körper. Psyche ist sich also ihres sterblichen Körpers bewußt, sie ist in Erwartung des Todes, der ja jeden menschlichen Körper zu gegebener Zeit ereilt. Psyche steht für den Menschen, der sich seiner Existenz in Raum und Zeit bewußt ist, der aber seine Wurzel jenseits von Raum und Zeit aus dem Bewußtsein verloren hat.

Die Pfeile, die Eros verschießt und mit denen er die Herzen der Getroffenen in flammende Liebe versetzen kann, sind Blick-Pfeile, sie sind ein Symbol für den Blick, der im Innersten trifft. Sehen und Gesehenwerden sind von Anfang an von entscheidender Bedeutung für die Entstehung der Liebe zwischen Psyche und Eros. Psyche findet sich in einem herrlichen Palast wieder, geliebt von einem wunderbaren Liebhaber, den sie hören, spüren und fühlen, aber nicht sehen kann. Und dieser Liebhaber ist göttlich, unsterblich, und Psyche erlebt ihn nur bei Nacht. Die Nacht und das Nicht-Sehen und auch Nicht-Sehen-Dürfen stehen für das Unbewußte. Die Seele ist sich ihres göttlichen Liebhabers und Beschützers nicht bewußt. Sie akzeptiert ihren Liebhaber, weil sie sich geliebt fühlt, aber sie selbst liebt ihn noch nicht. Damit es dazu kommen kann, muß sie ihn bei Licht gesehen haben. Die im Unbewußten wirkende göttliche Kraft muß ins Bewußtsein kommen, damit die Seele ihre Liebe erwidern kann.

Argwohn und Zweifel sind dabei die treibende Kraft für die Bewußtwerdung. Sie sind das im Orakel-Spruch prophezeihte Ungeheuer, dessen Beute Psyche wird. Dem denkenden Menschen reicht die glückliche Erfahrung nicht, Psyche will sich eine Vorstellung, ein Bild machen von dem, was ihr geschieht. Und so bricht sie ihr Versprechen. Sie will nicht länger nur unbewußt genießen, sie setzt alles auf´s Spiel, um Bewußtheit zu erlangen.

Die Schönheit des göttlichen Geliebten ist für Psyche überwältigend: das Bewußtsein kann es nicht fassen, kann der unmittelbaren Konfrontation mit dem Göttlichen nicht standhalten. Psyche verliert ihr Gleichgewicht und verletzt sich an einem der Pfeile. Erst jetzt ist auch Psyche unsterblich verliebt in Eros. Wie zuvor schon bei Eros entsteht die unsterbliche Liebe aus einer kleinen Verletzung des Körpers, Symbol für eine Verletzung des Ich (Ego), d.h. der Vorstellungen, die wir uns von uns selbst gemacht haben.

Eros verschwindet sofort und mit ihm der herrliche Palast, das Paradies, in dem Psyche so unbeschwert gelebt hat. Das Göttliche entzieht sich dem, was wir mit den Augen des Körpers sehen können. Und Psyche ist noch sterblich, das heißt, noch sieht sie nur mit den Augen des Körpers, Psyche sieht durch ihr Ich (Ego), durch die Brille ihrer Vorstellungen, die sie sich von sich und der Welt macht.

Nach dem Verlust des Geliebten und des Paradieses will Psyche sterben. Der Tod erscheint ihr als Ausweg, um dem Schmerz der Trauer und der Verlassenheit zu entgehen. Aber sie stirbt nicht, sie ist ja bereits unsterblich verliebt, das heißt, dieser Liebe kann auch der Tod kein Ende setzen, mit dieser Liebe ist etwas von ihrem unsterblichen Selbst (Wesen) in ihr Bewußtsein gedrungen. Und nun beginnt eine langdauernde Suche nach ihrem Geliebten: Überall in der Welt sucht sie ihn, sogar in der Unterwelt. Sie sucht ihn in der Welt, das heißt in dem, was durch Zeit und Raum und Materie definiert ist. Dabei erleidet sie Schmerz und Trauer und schlimme Schicksalsschläge. Naturkräfte helfen ihr, alles zu überstehen: das sind die natürlichen und unbewußten Kräfte, die in uns wirken und uns helfen, wenn wir sie achten.

Eros hat nie aufgehört, Psyche zu lieben und zu beschützen. Auch wenn sich die göttliche Kraft dem Zugriff des Bewußtseins entzieht, leitet sie weiterhin das Geschick der geliebten Seele. Psyches Schicksal ist der Weg zurück zu ihrem Geliebten, im Schicksal werden Psyche die notwendigen leidvollen und glücklichen Erfahrungen zuteil, die Psyches Heil erst ermöglichen.

Schließlich verleiht Zeus Psyche die Unsterblichkeit. Zeus steht für die Urteilsfähigkeit des Menschen. Die durch die Erfahrung gereifte Urteilsfähigkeit Psyches öffnet ihr den Blick für das Wesentliche. Die Seele hat gelernt, nicht mehr nur mit den Augen des Körpers zu sehen, durch ihr Ich (Ego), durch die Brille ihrer eigenen beschränkten Vorstellungen zu sehen, sondern in ihrem bewegten Schicksal das göttliche Wirken zu erkennen. Jetzt kann sie sich mit ihrem göttlichen Geliebten für immer verbinden.

Soweit der Mythos. Er gibt uns einen Überblick über den Weg der Seele, der zur Selbsterkenntnis und zum Heil, zur Ganzheit führt. Wo fangen wir an, wenn uns bewußt wird, daß auch wir auf diesem Weg sind ?

Es ist wie mit dem Spiegel: Ich brauche den Spiegel zur Betrachtung der Teile von mir, die ich nicht unmittelbar sehen kann (also z.B. für mein Gesicht). Es gibt Teile meines Seelenlebens, die mir bewußt sind: Ich fühle mich traurig oder wütend oder gelangweilt. Und dann gibt es auch das, was mir nicht bewußt ist, obwohl es in mir wirkt und zu meinem Seelenleben dazugehört (der unsichtbare Teil des Eisbergs). Dafür brauche ich einen Spiegel.

- Der Körper ist ein Spiegel oder genauer: das, was im Körper zu spüren ist, ist ein Ausdruck unbewußter seelischer Regungen. - Träume sind ein Spiegel: alle Personen, Tiere, Gegenstände, Landschaften usw. spiegeln in bildhafter Form etwas wider vom Seelenleben des Menschen, der den Traum hat. - Die Sprache, die ein Mensch benutzt, und sein sichtbares Verhalten sind ein Spiegel für sein unbewußtes Seelenleben. - In allen Ich-Du-Beziehungen ist das Du ein Spiegel: Wie der andere mir begegnet, das hat auch etwas mit mir zu tun.

Das Problem mit dem Spiegel ist, daß er mir als Spiegel erst nützlich sein kann, wenn ich begreife, daß alles, was ich darin sehe, mit mir zu tun hat.

Solange ich glaube, daß es Krankheiten oder einzelne Symptome gibt, die nichts mit dem Seelenleben zu tun haben, solange ich glaube, daß Träume nur wirres Zeug sind, das man nicht weiter zu beachten braucht, solange ich glaube, daß ich doch nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen muß, da es weniger auf die Worte als auf die Taten ankomme, oder daß mein Verhalten von den Mitmenschen nur mißverstanden wurde, da ich es doch anders gemeint habe, solange ich glaube, daß das, was ich dem anderen vorwerfe, nur mit ihm und nicht mit mir zu tun hat, solange nützt mir der Spiegel nichts. Und ich greife den Spiegel an, wenn mir nicht gefällt, was ich darin sehe.

Psyche schaut in den Spiegel: Der Körper als Spiegel.

Ich möchte Sie jetzt zu einer Übung einladen, bei der es darum geht, auch die feinsten Körperempfindungen noch wahrzunehmen und sorgfältig zu betrachten.

Atem-Übung 1

Ich erwähnte schon die gemeinsame sprachliche Wurzel von Seele und Atem. Die Beachtung des Atems ist der Königsweg, um tiefer in das eigene Seelenleben hineinzuleuchten. Üblicherweise beachten wir unseren Atem nicht, stattdessen sind wir mit unserer Aufmerksamkeit bei unseren Gedanken, die uns oft regelrecht gefangennehmen. In bezug auf das eigene Seelenleben bewegen sich die Gedanken aber fast immer nur an der Oberfläche: ich mache mir selbst etwas vor, was nicht stimmt. Die zentralen emotionalen Konflikte haben wir aus unserem Bewußtsein verdrängt und durch Nebenkriegsschauplätze ersetzt. In unserem Denken sind dem Selbstbetrug keine Grenzen gesetzt.

Der Körper mit seinen Signalen gibt uns die Möglichkeit, das eigene Denken auf seine Stimmigkeit hin zu überprüfen. Was sind in Wirklichkeit meine zentralen inneren Themen, die ich im täglichen Leben lieber vermeide oder nicht wahrhaben will ? Jede Einschränkung im natürlichen Fluß des Atems, jede Stockung, jede Beengung oder Verflachung ist ein Ausdruck eines unbewußten Vermeidungsverhaltens: bestimmte Gefühle und Handlungen werden vermieden, bestimmte Gedanken und Vorstellungen werden vermieden, das heißt, sie werden in der Verdrängung gehalten. Ich betone: gehalten! Deshalb ist das Loslassen in tiefster Entspannung und vertrauensvoller Hingabe nicht möglich. Der Körper drückt die verborgene innere Wirklichkeit gleichnishaft aus, d.h. in Analogien oder Entsprechungen.

Beispiele: Schnupfen: Ich hab die Nase voll. Husten: Ich huste dir eins. Schwindel: Ich schwindele, d.h. ich mache anderen und vor allem mir selbst etwas vor, was nicht stimmt. Kalte Füße: Ich bekomme kalte Füße, d.h. ich bekomme Angst, wenn es darum geht, einen bestimmten Schritt in meinem Leben zu tun Kopfschmerz: In bezug auf ein mir wichtiges Lebensthema zerbreche ich mir den Kopf. usw.

Immer wird das Konflikt-Thema, das eigentlich nach einer Auseinandersetzung auf der seelisch-geistigen Ebene verlangt, verschoben auf die physische Ebene und auf dieser Ebene erlitten. Die Symptome sind das „Herabgefallene“: das unangenehme Konfliktthema fällt von der Geist-Ebene herab auf die Körper-Ebene, wo es sich als „Symptom“ bemerkbar macht. Die geistigen Überzeugungen und Kernsätze wirken auf die Seele und über die Seele auf den Körper, um sichtbar, d.h. bewußt zu werden. Nur die bewußte Auseinandersetzung mit diesen bereits in der Kindheit entwickelten Grundüberzeugungen kann die inneren Konflikte wirklich lösen.

Psyche schaut in den Spiegel: Träume als Spiegel.

Eine Frau träumt nachts davon, daß ein Krieg ausbricht, in dem die Atombombe als

furchtbarste Waffe eingesetzt wird. Sie erlebt im Traum Angst und Entsetzen und wacht mit diesen Gefühlen auf. In ihrem Tagbewußtsein ist sie friedliebend, eher konfliktscheu.

Daß in ihr bzw. in ihrem unbewußten Seelenleben so etwas Gewalttätiges und Zerstörerisches wie die Atombombe sein könnte, erscheint ihr völlig abwegig. Sie hat die Gefühle von Wut und Aggression so perfekt aus ihrem bewußten Erleben verdrängt, daß sie nichts mehr davon spürt und im Traum die Zerstörungsgewalt als etwas von außen auf sie zu Kommendes, nicht zu ihr Gehöriges erlebt. Erst nach einer längeren Selbsterforschung findet sie einen Zugang zu Ihrer Wut und Aggression.

Ein Kind träumt immer wieder davon, daß es von einer unbekannten namenlosen Macht verfolgt wird, auf der Flucht an einen Abgrund kommt, über den nur ein schmaler Steg führt und beim Balancieren auf diesem Steg schließlich abstürzt. Jedesmal wacht es dann in Angstschweiß gebadet auf. Die therapeutische Begleitung des Kindes fördert zutage, daß dieses Kind schon früh gelernt hat, seine inneren Impulse nicht nur zu kontrollieren, sondern als bedrohlich ganz aus seinem Bewußtsein zu verdrängen. Die eigenen Impulse sind es, die es in der Nacht verfolgen und vor denen es auf der Flucht ist. Sich fallen zu lassen und den eigenen Impulsen nachzugeben, wird als in höchstem Maße angsterregend erlebt.

Traumbilder sind ebenso wie Körpersymptome vieldeutig, d.h. ein und dasselbe Bild oder Symptom kann auf verschiedenen Bedeutungsebenen eine recht unterschiedliche Bedeutung bekommen. Diese Bedeutungsebenen entsprechen seelischen Schichten unterschiedlicher Tiefe. So kann es sein, daß in der inneren Auseinandersetzung mit einem Traum oder einem Körpersymptom sich zunächst eine aktuelle und konkrete Bedeutung erschließt (z.B. „ich hab die Nase voll“) und später eine noch tieferliegende Bedeutung sichtbar wird (z.B. „ich bin voll ungeweinter Tränen“).

Psyche schaut in den Spiegel: Die Sprache als Spiegel.

Auch die Sprache, die wir sprechen, spiegelt etwas von unserer inneren Wirklichkeit wider. So verwenden Menschen bestimmte Wörter häufiger, so daß man von einer Affinität des betreffenden Menschen diesen Wörtern gegenüber sprechen kann. Z.B. kann die häufige Verwendung von Wörtern wie „irgendwie, irgendwo, irgendwann usw.“ auf einen Unwillen hindeuten, sich festzulegen oder klar und eindeutig zu sein. „Eigentlich“ kann auf eine Kluft zwischen innerem Erleben und äußerem Verhalten hinweisen. „Ich denke, ich fühle mich gut“ kann daraufhin weisen, daß die betreffende Person in Wirklichkeit nicht fühlt, sondern denkt.

Auch Modewörter wie z.B. „irre“, „Wahnsinn“, „cool“ usw. weisen auf eine verdeckte seelische Wirklichkeit hin, in der viele Menschen weitab von ihren Gefühlen („cool“) im Wahnsinn leben, d.h. in einer Situation, in der sie so stark mit einem idealisierten Selbstbild identifiziert sind, daß die Einbildung die Sinneswahrnehmung bestimmt und der Bezug zur Realität nur an einem seidenen Faden hängt oder ganz verloren geht. Unbewußte Negativität drückt sich oft in einer Vorliebe für Verneinungen aus: „Ich weiß nicht“, „ich kann nicht“, usw.

Hier noch weitere Beispiele für häufig vorkommende Formulierungen, in denen sich Unbewußtes ausdrückt: „Heute geht es mir unheimlich gut“. „Ich fühle mich niedergeschlagen und leer.“ „Der Tag war beschissen.“

Das Unbewußte kennt keine Verneinung, es kennt nur das, was in seinem Erleben ist. Nur das Bewußtsein kennt die Verneinung. Ein Satz wie z.B. „Ich kann doch nicht einfach losbrüllen, wenn mir danach ist“, drückt einen Konflikt zwischen unbewußtem Impuls („ich kann doch einfach losbrüllen, wenn mir danach ist“) und bewußter Kontrolle aus („nicht“). Das Ergebnis dieses inneren Konflikts ist eine Blockierung, die sich auf den Ebenen von Denken, Fühlen und Körperempfinden auswirkt.

Diese wenigen Beispiele können nicht mehr als ein Hinweis sein. Vielleicht ist damit Ihr Interesse geweckt und Sie fangen an, bei sich und anderen auch auf die sprachliche Ebene zu achten, so daß Sie Ihre eigenen Beobachtungen und Schlußfolgerungen machen können.

Psyche schaut in den Spiegel: Das Du als Spiegel für das Ich.

Im Gespräch mit Kollegen, Bekannten und Freunden jammert eine Frau über ihre Lebenssituation und gibt dabei anderen und den Umständen die Schuld daran, daß es ihr so schlecht gehe. Sie fühlt sich als Opfer und sieht die anderen als Angreifer, die ihr etwas antun. Allmählich werden ihre Zuhörer gereizt und ärgerlich oder wenden sich von ihr ab. Erneut fühlt sie sich als Opfer und sieht sich in ihrer Weltsicht bestätigt. Diese Frau ist sich ihrer unterschwelligen Aggressivität nicht bewußt, oder wenn sie einmal die eigene Aggressivität fühlt, betrachtet sie sie nur als Reaktion auf das, was von außen auf sie zukommt. Doch ihre Gesprächspartner spüren die unterschwellige Aggression und wenden sich ab oder werden selbst aggressiv. Hier wirkt ein Resonanzprinzip: Verdrängt ein Mensch ein bestimmtes Gefühl (hier: Ärger), so ist dieses Gefühl unterschwellig immer noch gegenwärtig und ruft entsprechende Gefühlsreaktionen bei den Kommunikationspartnern hervor: Ärger ruft Ärger hervor, Trauer ruft Trauer hervor usw. („Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es zurück“).

Die Gefühle, die ich in mir selbst nicht zulasse, obwohl sie ja in mir sind, provoziere ich also unbewußt bei meinen Kommunikationspartnern, die ebendiese Gefühle nun ihrerseits entweder ebenfalls nicht zulassen und mich deswegen meiden oder mich mit diesen Gefühlen konfrontieren.

Die Opfer- und die Täterrolle sind die zwei verschiedenen Seiten ein und derselben Medaille: das Opfer verdrängt seine aktive Täterseite aus dem eigenen Bewußtsein und projiziert sie auf geeignete Personen in der Außenwelt, der Täter verdrängt seine passive Opferseite aus dem eigenen Bewußtsein und projiziert sie auf geeignete Personen in der Außenwelt. So ziehen sich Opfer und Täter mit magnetischer Kraft gegenseitig an. Erst wenn das Opfer bereit ist, den Täter als Spiegel für seine eigene unbewußte Aggression zu sehen, und erst wenn der Täter bereit ist, das Opfer als Spiegel für seine eigene unbewußte Hilflosigkeit, seine Ohnmacht und sein Leiden zu sehen, kann der Teufelskreis, in dem Täter und Opfer gefangen sind, überwunden werden.

Der Projektionsvorgang wird anschaulich und verständlich am technischen Beispiel der Dia-Projektion. Es scheint so, als ob das Bild auf der Leinwand sei. Doch in Wirklichkeit steckt es im Dia-Projektor. Alles, was ein Mensch aus seinem Bewußtsein verdrängt, weil er es an sich und in sich nicht akzeptiert, projiziert er gleich dem Dia-Projektor nach außen auf einen anderen oder mehrere andere Menschen (die Leinwand). So erscheint es ihm, als sei das Abgelehnte nicht in ihm, sondern in dem oder den Anderen. Fast alles, was wir im zwischenmenschlichen Kontakt für Wahrnehmung halten, ist in Wahrheit Projektion, sagte einmal Fritz Perls, der Begründer der Gestalttherapie.

Eltern können im Kontakt mit ihren Kindern immer wieder die Erfahrung machen, wie das Kind die Schattenseiten des Erwachsenen widerspiegelt, die der Erwachsene an und in sich nicht wahrhaben will.

Mit dem Mythos von Narziß, wie er von Ovid überliefert worden ist, möchte ich in meinem Vortrag nun zum Schluß kommen.

Narziß ist Sohn eines Flußgottes, der die schönste der Nymphen vergewaltigt, und eben dieser Nymphe. Schon als Kind ist er gleichermaßen begehrt von Jünglingen und Mädchen, doch ist er spröde und hochmütig. Als Narziß 16 Jahre alt ist, beobachtet ihn die Nymphe Echo bei der Treibjagd im Wald. Sie folgt heimlich seiner Spur und entbrennt in leidenschaftlicher Liebe für den schönen Jüngling. Echos erbärmliches Schicksal ist es, daß sie nichts Eigenes sagen, sondern nur die Rede anderer wiederholen kann. Als sie sich ihm nähert, schreckt Narziß auf, der sich allein wähnte. „Ist niemand hier?“, fragt er, noch bevor Echo sich ihm zeigt. Doch er bekommt als Antwort auf diese Frage und alle weiteren Äußerungen nur seine eigenen Worte zurück, die die unglückliche Nymphe wiederholt. Als Echo sich zeigt und mit ihrer Liebe auf ihn zukommt, flieht er voller Entsetzen. Echo vermag seine Sehnsucht nicht auf sich zu ziehen. So findet sich Echo in ihrer eigenen Sehnsucht und Verliebtheit zurückgewiesen und allein. Einer jener Abgewiesenen, der früher einmal von Narziß zurückgewiesen und verschmäht worden war, fleht den Himmel an: „Möge er selber so lieben, und nie das Geliebte besitzen“. Und dieser Wunsch findet Erfüllung. Bei einem Streifzug durch den Wald kommt der jugendliche Narziß an einen See, dessen Oberfläche ganz ruhig und spiegelglatt ist. Er setzt sich ans Ufer, als sein Blick auf einen wunderschönen jungen Mann fällt, der ihm von der Oberfläche des Wassers entgegenblickt. Nie zuvor hat Narziß sich in einem Spiegel gesehen. So erscheint ihm sein Spiegelbild wie ein fremdes Wesen, in das er sich spontan verliebt und mit dem er in Kontakt treten möchte.

Doch wann immer er nach dem fremden Jüngling greift und ihn zu berühren trachtet, verschwimmt dessen Kontur, und er entzieht sich für kurze Zeit, bis er erneut Narziß freundlich und sehnsüchtig entgegenblickt. Narziß vermag sich nicht dem Zauber jenes schönen Wasserjünglings zu entziehen, der für ihn jedoch unerreichbar bleibt. Narziß stirbt einen langsamen Tod, er stirbt an unerfüllter Sehnsucht. Wo sein Körper schließlich vergeht, dort wachsen später die nach ihm benannten Blumen, die Narzissen.

Die gängige Deutung besagt, Narziß habe sich unsterblich in sein Spiegelbild verliebt, und er sei daran zugrundegegangen, daß diese Liebe keine Erwiderung gefunden habe. Und entsprechend meint die Psychologie mit dem „Narzißten“ den selbstsüchtigen, völlig mit seiner Fassade identifizierten Menschen.

Doch schaut man den Mythos genau an, so deutet er offensichtlich auf etwas anderes hin. Auch wenn Narziß in einem anderen lebendigen Wesen eine Verkörperung seines Spiegelbildes gefunden hätte, wäre seine tiefste Sehnsucht unerfüllt geblieben. In der Begegnung mit der Nymphe wird deutlich, daß ihm das bloße Echo nicht reicht, daß er mehr will als nur die Widerspiegelung an der Oberfläche. Seine tiefste Sehnsucht, an der er zugrundegeht, wenn sie nicht Erfüllung findet, ist die Sehnsucht nach einer Spiegelung im Wesensgrund, das ist die Sehnsucht nach einer echten Begegnung, in der zwei Wesen sich öffnen und einander ihr Innerstes zeigen. Mit weniger gibt er sich nicht zufrieden.

Fritz Perls, den ich zuvor schon erwähnte, hat unterschieden zwischen „Pseudo-Kontakt“ und „wirklichem Kontakt“. Pseudo-Kontakt bleibt an der Oberfläche und zeigt dem Gegenüber nur die Maske, die soziale Fassade. Wirklicher Kontakt geht unter die Haut, ergreift immer die ganze Person und bewirkt immer ein Stück Verwandlung. Pseudo-Kontakt ist Gift, wie wir bei Narziß sehen ein tödliches Gift. Wirklicher Kontakt ist die Nahrung für die Seele, die wir alle so dringend brauchen.