Rose, oh reiner Widerspruch
Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, Niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern.
Rilke hat in seinem Testament vom 27. Oktober 1925 dieses Gedicht zur Grabinschrift bestimmt. Es geht also um etwas, das ihm wesentlich ist und von dem er will, daß – auch nach seinem Tod – die Nachwelt darum weiß. Wenn wir die Blütenblätter der Rose als ihre Augenlider auffassen, so hat sie viele, viele Lider, aber nur ein Auge, das unter so vielen Lidern wartet, warten muß, bis sie alle sich geöffnet haben. Hier fühle ich mich erinnert an das eine Auge Gottes oder auch an die innere Erfahrung des dritten Auges im Yoga. Wer so viele Augenlider hat, dem liegt viel an einem ungestörten Schlaf, so könnten wir meinen und stoßen damit auf der Rose reinen Widerspruch. Die Öffnung all ihrer Lider ist als das Erwachen ihres einen Auges zu verstehen. Dann erst kann sie ungehindert ihren betörenden Duft verströmen, ihre Essenz, die nun nicht mehr in ihrer Rosengestalt eingeschlossen oder an diese gebunden ist. Stets ist Schlaf an eine Gestalt, an einen Körper gebunden: jemand (engl. somebody) schläft, irgendein Körper schläft. Lust, Niemandes Schlaf zu sein, meint also beides: die Lust, vollständig zu erwachen, zu 100 % gegenwärtig und wach, also voll da zu sein, wie auch die Lust, in seiner Essenz vollkommen offen und nicht mehr an irgendeinen Körper gebunden zu sein: reines Bewußtsein ohne jede räumliche oder zeitliche Begrenzung.
Je nach religiösem oder weltanschaulichem Hintergrund kann das auch kosmisches Bewußtsein, Christus-Bewußtsein oder Buddha-Bewußtsein genannt werden.
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