Sufi-Lehrer Nigel Hamilton

Die Funktion der Träume im Prozeß der menschlichen Transformation

Transskription eines Vortrags von Nigel Hamilton, den er im September 2008 in Hamburg auf Englisch gehalten hat mit deutscher Konsekutiv-Übersetzung und den Auditorium Netzwerk als Video aufgenommen hat. Die oft lückenhafte und zuweilen sinnverfälschende Konsekutiv-Übersetzung wurde von Ekkehard Ortmann ergänzt und gründlich überarbeitet.

Es ist eine Ehre eingeladen zu sein, über den spirituellen Pfad zu sprechen. Ich spreche hier für einen Sufi-Orden des Westens, der von dem in Indien geborenen Hazrat Inayat Khan gegründet wurde. Zuerst möchte ich etwas über den Sufismus sprechen, was ist Sufismus, welches ist mein spezieller Sufi-Pfad, dem ich folge und der zum Sufi-Orden im Westen gehört.

Träume werde ich dafür nutzen, um an ihnen die verschiedenen Aspekte des spirituellen Pfades zu illustrieren. Als ich gebeten wurde, hier diesen Vortrag zu halten, habe ich allerhand zusammengetragen, dann habe ich es angeschaut und gemerkt, daß sich das nicht authentisch anfühlt. Es sah beeindruckend aus, aber war sehr technisch, und ich habe gedacht, das kommt nicht gut ’rüber. Was nötig ist – wie ich glaube – ist, über die eigenen Erfahrungen auf dem spirituellen Pfad zu sprechen. Das habe ich bisher noch nicht öffentlich getan. Es ist das erste Mal, daß ich öffentlich sprechen werde über meine eigenen Erfahrungen der Transformation.

Mithilfe des Sufi-Pfades, welches nur einer von vielen Pfaden ist, habe ich herausgefunden, daß nicht alle der Erfahrungen auf diesem Pfad durch die Sufi-Lehren erklärt werden können. Manchmal mußte ich auf buddhistische Texte zurückgreifen, um mir meine Erfahrungen erklären zu können. Manchmal haben mir die Lehren eines Jogis ein Licht aufgehen lassen, manchmal war es die jüdische Tradition, die christliche Tradition und natürlich auch der Islam. Wie mir klar wurde, sind es eigentlich universale Wahrheiten, die ich auf meinem spirituellen Weg gefunden habe. Es gibt nur einen spirituellen Pfad, aber es gibt viele verschiedene Weisen, wie man diesen Pfad jeweils begehen kann.

Man sagt traditionell, der Sufismus sei die esoterische Seite des Islam. Das ist eine der Kon-troversen, die wir in Religionen finden. Viele Sufis sagen nämlich, das sei nicht wahr. Jene, die sagen, das sei nicht wahr, werden dann zu Ketzern erklärt. Und die, die sagen, es sei wahr, das sind dann die Gläubigen. Ich gehöre zu den Häretikern, zu den Ketzern. Aber ich habe großen Respekt vor dem Islam und vor allen Religionen. Viele meiner spirituellen Praktiken habe ich aus dem Islam bezogen. Doch glaube ich nicht, daß Gott auf eine Tradition beschränkt sein kann. Religion ist etwas vom Menschen Geschaffenes. Es ist ein Versuch, Gott nahe zu kommen. Man sagt, daß die Sufi-Tradition um die Zeit des Mohammed herum entstanden sei.

Und tatsächlich war Mohammed, der tiefgreifende Offenbarungen erfuhr, ein Analphabet. Und die Menschen, die ihm gefolgt sind, konnten lesen und waren Sufis. Genauer gesagt: Sie wurden Sufis genannt. Sie sind einem spirituellen Pfad gefolgt, der ein Verständnis dafür hatte, wie das innere Leben erweckt werden kann. Mohammed hat in einem Erlaß verfügt, daß alle seine Gefolgsleute Baumwollkleidung tragen sollten, um auf diese Weise Selbstrespekt zu zeigen. Aber die, die wir als Sufis bezeichnen, sind diesem Erlaß nicht gefolgt. Sie trugen weiterhin ihre traditionelle Kleidung aus Schafwolle. Daher wurden die Sufis die Woll-Leute genannt. Sufi bedeutet Wolle. Das ist der Ursprung des Wortes Sufi. Wir denken gern an einen anderen etymologischen Ursprung, nämlich aus dem griechischen Wort Sophia, das Weisheit bedeutet. Sucht Euch aus, was euch genehm ist.

Die Sufis sind tatsächlich sehr gut geerdet, sie suchen die Spiritualität im täglichen Leben. Es gibt eine Geschichte, die das illustriert. Das ist die Geschichte vom Mullah Nasruddin. Das ist der Name für eine fiktive Figur mit etwas eigenartigem Charakter, die es nur in den Sufi-Geschichten gibt.

Nasruddin war in der Wüste unterwegs zusammen mit einem Yogi und einem Priester, zwei anderen spirituellen Suchern. Sie hatten nichts mehr zu essen. Nur ein Stück guten Kuchens war übrig. Das Kuchenstück war zu klein, um es durch drei zu teilen. So entschieden sie sich schließlich, derjenige solle den Kuchen bekommen, der den besten Traum habe. So gingen sie schlafen, standen am nächsten Morgen auf. Und der Yogi sagte, ich hatte einen wundervollen Traum: Krishna und all die heiligen Devas waren in meinem Traum versammelt, um ihren Gebetsgesang darzubieten, ich fühlte mich sehr gesegnet und sollte daher auch den Kuchen bekommen. Der Priester erzählte dann, in seinem Traum habe er die Engelschöre gehört, wie sie Loblieder sangen und schließlich sei ihm sogar Mutter Maria erschienen und habe ihm zugelächelt. Daher sollte nach seiner Meinung er den Kuchen bekommen. Dann haben sie sich Nasruddin zugewandt, der ein ziemlich heruntergekommener und gerissener Geselle war. Und sie fragten ihn: „Hast du auch einen Traum gehabt?“ „Ja. In meinem Traum ist ein Wesen zu mir gekommen (Hidā genannt), das symbolisch für die spirituelle Führung steht und hat zu mir gesagt, ich solle aufwachen und den Kuchen essen. Also habe ich das getan.“

Manchmal gibt es in Träumen einfach die Wunscherfüllung. Das hat nichts mit Spiritualität zu tun. Aber wenn du Wunscherfüllung erfahren hast, sei darüber einfach ehrlich.


Im Sufismus glauben wir, daß Gott einen Sinn für Humor hat. Die Sufi-Tradition ist eine Tradition des Herzens. In der Tat würde ich sagen, daß sie die Religion des Herzens ist. Es ist nicht eine formale Religion. Sie richtet ihr Augenmerk sehr darauf, was das Herz fühlt.

Je nachdem, was und wie dein Gefühl im Herzen ist, wird das deine Erfahrung bestimmen. Wenn du Gott finden möchtest, aber voll von Ärger bist, dann wird alles, was du in der Welt findest, wieder ein Grund für Ärger sein. Wenn du in deinem Herzen enttäuscht bist und nach Gott suchst, wirst du nichts anderes als Enttäuschung finden. Aber wenn dein Herz voll von Liebe ist, wirst du Liebe finden. Du wirst Gott als Liebe erfahren. Und wenn das Licht Gottes, das Licht des Himmels, in deinem Herzen ist, wirst du den Himmel finden. Es kommt also darauf an, was in unserem Gemüt enthalten ist. Das meine ich mit dem inneren Leben. Wenn du tatsächlich dein inneres Leben erfährst und es dadurch lebendig wird, daß du es siehst, hörst und schmeckst, dann kostest du von dem, was in deinem Herzen ist. Du siehst es, hörst es, fühlst es. Und natürlich ist das sehr verwirrend. Denn wir haben eine naive Vorannahme, daß sich uns alles offenbaren würde, bloß weil wir spirituelle Suchende sind, daß die Zeichen als Schatten erscheinen werden und daß uns Erlösung angeboten würde.

Das spirituelle Leben ist ein Leben des mühseligen Ringens. Der Sinn all dieses Ringens ist, das Herz zu öffnen. Unsere Herzen können durch Enttäuschung, durch Kreuzigung, durch Verlust geöffnet werden.

Selten hört man von Menschen, daß sie aufgrund eines Lottogewinns oder aufgrund der Verleihung des Nobelpreises oder aufgrund anderer Erfolgserlebnisse im Leben ihr Herz geöffnet haben. Oft sagen mir Leute – sehr verärgert – warum hat Gott das alles so angelegt? Das ist nicht in Ordnung. Die Antwort liegt darin, daß etwas aufbrechen muß, damit der göttliche Geist durchdringen kann. Und ich glaube, das ist durchgängig in allen Traditionen so.

Rufen wir uns noch eine andere Sufi-Geschichte in Erinnerung. Da geht es um einen Busfahrer und einen Priester. Die beide waren Nachbarn. Der Priester war ein rechtschaffener Mann. An jedem Sonntag war er gewillt zu predigen, und er führte ein sehr gutes Leben. Der andere, der Busfahrer war ein ziemlich leichtfertiger Mensch. Und als eines Tages beide starben, tauchten sie, weil sie Nachbarn waren, gleichzeitig bei Petrus am Himmelstor auf. Was seine Zukunft angeht, hatte der Busfahrer keinerlei Erwar-tungen. Er war sich sicher, daß er nach unten gehen muß. Dorthin, wo es heiß ist. Er sagte also: „Nach Ihnen, nach Ihnen!“ Er hatte es nicht eilig, dorthin zu kommen. Der Priester ging also voran in Erwartung von etwas sehr Wunderbarem. Petrus sagte zum Priester: „Laß mich mal nachschauen, wohin du jetzt gehst. Ah, du bist auf der Liste, du gehst nach unten.“ Und der Priester war schockiert, bis ins Innerste erschüttert. Er war völlig verdattert und hatte keine Ahnung, was hier los ist. Petrus sagte: „So, der nächste bitte.“ Der Busfahrer sagte sich, wenn der Priester nach unten muß, wo muß ich dann hingehen? Petrus schaute auf seine Liste: „Ah, ja, wir haben einen Platz für dich hier oben im Himmel.“ Der Busfahrer hüpfte vor Freude und feierte das. Es war ein Wunder. Der Priester war nach wie vor erschüttert. „Hier ist etwas nicht in Ordnung. Dieser Mann ist ein leichtfertiger Idiot. Er hat sein Leben damit verbracht, das Leben anderer Menschen zu gefährden. Und ich habe den Menschen etwas über Gott und den Himmel vermittelt und ein frommes Leben geführt. Und das ist das Resultat. Ich verlange eine Erklärung.“ Er möge kurz warten. sagte Petrus zu ihm und ging zu Gott. Dann kam er von der Besprechung mit Gott zurück und sagte: „Wenn du deine Predigten gehalten hast, sind alle in der Kirche eingeschlafen. Aber wenn er den Bus gefahren hat, haben alle Fahrgäste gebetet.“

Der spirituelle Pfad ist voll von Überraschungen. Du bekommst nie das, was du erwartest. Immer wenn ich glaubte, etwas verstanden zu haben, trat genau das Gegenteil von dem ein, was ich für wahr gehalten hatte. Und es war für mich wichtig, das zu erkennen, zu akzep-tieren und demütig anzuerkennen, daß ich ein Novize (ein spiritueller Schüler) bin. Ich weiß nicht wirklich, wo es hingeht. In der christlichen Tradition ist das die Bedeutung des Lammes Gottes. Wir müssen unschuldig werden, wenn wir das Licht in unserem Herz finden wollen. Ressentiments, Schuldgefühle, Ärger, Begierden und deine Weltanschauung mußt du hinter dir lassen, um – im buddhistischen Sinne – leer zu werden, zu nichts zu werden. Wenn du das wahrhaft willst, dich dem verpflichtest und lange genug dabei bleibst, dann wird es eine Antwort geben. Ihr kennt das: Kyrie eleison, Christe eleison. Gott, der Herr, hat Erbarmen mit mir – Christus hat Erbarmen mit mir. Die Auferstehung Christi vollzieht sich im Herzen. Wenn deine Absicht ernsthaft und wahrhaftig ist, dann erhältst du auch eine Antwort. Das ist ein wichtiges Thema im Sufismus. Die Frage und die Antwort. Die Anrufung und die Antwort. Wonach sich dein Herz sehnt und wonach es ruft, das wird kommen.


Ich möchte euch heute durch verschiedene Stadien des spirituellen Pfades hindurchführen, das bezieht sich also nicht speziell auf den Sufi-Pfad. Sonst würde ich mir ja selbst wider-sprechen. Aber ich werde jene Sprache benutzen, die sehr berühmte Sufis gebraucht haben: z.B. Fariduddin Attar, ein persischer Mystiker und sehr bekannter Sufi-Meister. In dem Buch „Die Konferenz der Vögel“ könnt ihr mehr darüber erfahren und nachlesen. Es ist in der Form einer Allegorie geschrieben, da es im Islam verboten war, auf direkte Weise über Gott zu schreiben oder zu sprechen.

Er beschreibt sieben Täler. Wir können das verstehen als sieben Ebenen des Bewußtseins. Das erste Tal ist das Tal der Suche. Erst wenn wir uns auf die Suche machen, werden all unsere Konzepte über Gott zerstört. An diesem Punkt möchte ich Worte von Hazrat Inayat Khan vorlesen:

Ich suchte und suchte und suchte
und nirgendwo konnte ich dich finden.
Auf dem Minarett stehend, habe ich dich angerufen,
Die Tempelglocke habe ich angeschlagen,
wenn die Sonne aufging und auch wenn sie wieder unterging.
Vergebens habe ich im Ganges gebadet.
Von der Kaaba bin ich zurückgekehrt – enttäuscht.
Im Himmel habe ich nach dir gesucht, mein Geliebter, meine Perle.
Doch schließlich habe ich dich gefunden,
verborgen im Kelch meines Herzens.

Die erste Lektion

Die erste große Lektion auf dem spirituellen Pfad besteht darin, daß du nach innen schauen mußt, wenn du dich auf die Suche machst und deinen Weg finden willst. Du kannst etwas finden, was dich anspricht, wie z.B. einen Lehrer oder eine besondere Erfahrung, die durch eine bestimmte spirituelle Tradition vermittelt wird oder vielleicht ein bestimmter Text, der dich anspricht. Aber das führt dich nicht wirklich weiter, es ruft dich nur. Auch der Lehrer bringt dich nicht dorthin, auch er ruft dich nur. Du selbst hast dich auf die Reise zu machen.

Nun werde ich über meine eigene Reise sprechen.

Geboren bin ich in Südafrika. Meine Eltern wurden Sufis, als ich noch sehr jung war. Somit hatte ich das Privileg, Zugang zu Gottesdiensten zu haben, zu Heilern, zu Schamanen. Als ich elf oder zwölf war, habe ich ein Buch über Kundalini in die Hände bekommen und war begeistert. Was merkwürdig ist für einen zwölfjährigen Jungen. Habe mich ja auch für andere Sachen interessiert, aber das war für mich ein faszinierendes Mysterium. Manchmal ist es so, daß wir schon früh im Leben einen Hinweis auf unsere Bestimmung erhalten. Als ich dann zur Schule und Universität gegangen bin, ist mein Kopf sehr groß geworden, ich wurde sehr intellektuell. Damals dachte ich, der Sufismus sei eine ziemlich einfach gestrickte Philosophie. Aber ich erinnere mich, daß mein Vater mir einmal sagte: „Wenn du je die Gelegenheit hast, Hazrat Inayat Khan zu begegnen, wird er derjenige sein, dem du folgen kannst.“ Er war ihm 1961 in der Schweiz begegnet. Daran habe ich mich irgendwie erinnert. Vieles, was die Eltern sagen, geht ja in ein Ohr ’rein und zum anderen ’raus. Aber was mein Vater da gesagt hatte, ist mir mitten ins Herz gegangen. Was hat mein Vater erfahren, daß er mir das weitergeben wollte? Im Alter von 23 bin ich dann nach England ausgewandert. In den ersten drei Monaten suchte ich nach einer Wohnung in London. Damals war ich ein hoch qualifizierter Wissenschaftler, der nach Arbeit suchte, und ich wollte eigentlich eine wissenschaftliche Karriere einschlagen.

Schließlich erhielt ich eine Arbeitsstelle in einem nationalen physikalischen Labor, und in einem Vorort von London fand ich eine Wohnung. Der Vermieter sagte mir, daß es eine Dach-Wohnung sei mit zwei kleinen Räumen und einer Küche. In London hat man oft kleine Häuser mit Wendeltreppen. Manchmal denke ich, es sei extra so konstruiert, um einen ein wenig einzuschüchtern. Es war ganz unheimlich, dort hinauf zu klettern. Mein Vermieter sagte mir: „Hoffentlich wohnst du hier länger als die anderen.“ Ich erwiderte: „Was meinen Sie?“ Dann sagte er, niemand sei hier länger als ein paar Wochen geblieben, er könne das auch nicht verstehen, aber es sei sehr enttäuschend. Er schien mir ein netter Mensch zu sein und ich glaubte nicht, daß er es war, der die Mieter vergrault hatte. Also bin ich dort eingezogen. Weil ich noch nicht angefangen hatte zu arbeiten, hatte ich viel Zeit. Nach einer Weile habe ich gemerkt, daß ich mich etwas unwohl fühlte, wann immer ich die Wendeltreppe hinauf stieg. Es war, als ob irgendetwas auf meinem Rücken saß. Wenn ich mich umguckte, war aber nichts da. Es ist oft schwer, wenn du in ein fremdes Land kommst und niemanden kennst, Es gibt niemanden, mit dem du über so etwas sprechen kannst, niemand außer dem Vermieter. So habe ich das beiseite geschoben und habe es damit abgetan, daß ich eben nervös sei.

Als ich dort sechs Wochen gewohnt hatte, hatte ich einen Traum. Das war der erste Traum, der anfing, mich aufzuwecken. In jener Nacht habe ich geträumt, daß ich tatsächlich in dem Raum sei, in dem ich schlief. Auf dem Nachttisch stand in meinem Traum das Foto eines Mannes. Es war ein Schwarz-Weiß-Foto, das Profil eines vermutlich holländischen Hugenotten, die diese schwarzen Hüte trugen. Er hatte einen langen Bart. Ich schaute das Foto an, dann sah ich im Traum als nächstes ein Feld, in dem es eine Hecke als Grenze gab und ein kleines Loch in der Mitte der Hecke. Ich ging dort hindurch und dann kam ein weiteres Feld. Durch die Hecke hindurchgegangen zu sein, erschien mir wie das Überschreiten einer Grenze. Das nächste Feld erschien mir lichtvoller. Dann kam wieder eine Hecke mit einem Loch als Durchgang und ich ging auch dort hindurch und kam zu einem dritten Feld. Und in dem Feld sah ich plötzlich wieder das Foto. Aber der Mann auf dem Foto war nun lebendig. Der Mann wandte sich mit seinem Gesicht mir zu und schaute mich unvermittelt an. Und mich gruselte. Im Traum dachte ich, daß ich das träume und es nicht wirklich sei. „Ich mag das nicht und werde aufwachen.“ Also wachte ich auf. Und da stand er am Fußende des Bettes mit seinem Hut und dem Bart. Ich bekam den größten Schreck meines Lebens. Ich habe mich in den Arm gekniffen, um sicher zu sein, daß ich es bin. Aber es hat keinen Unterschied gemacht, der Mann war da. Und plötzlich war mir klar, warum keiner der Mieter hier geblieben war. Dieser unangenehme Mann jagt alle Leute hier wieder weg. Irgendwie sammelte ich allen Mut zusammen und sagte: „Geh weg, du gehörst hier nicht hin! Du gehörst nicht länger in diese Welt!“ Und – oh Wunder – der Mann verschwand. Manch einer mag jetzt sagen: „Ach, das war alles deine Fantasie.“ Aber für mich war das eine sehr reale Erfahrung, die mich erkennen ließ, daß alles, was ich bisher gelernt hatte, so etwas nicht erklären konnte. Es gibt andere Welten und es gibt Wesen in diesen anderen Welten.

Die zweite Lektion.

Es ist die Angst, die dich lähmt. Du darfst keine Angst haben. Es gibt nichts, wovor du Angst haben mußt. Denn in dem Moment, wo ich gesagt habe, was ich sagte, ist der ganze Spuk verschwunden. Dieser Mann war davon abhängig, daß die Leute Angst vor ihm hatten. Nur dann konnte er sie wegjagen. In dem Moment, wo ich meine Angst überwunden hatte, mußte er weggehen.

Und damit begann für mich die Suche. Viele spirituelle Lehrer habe ich gesucht und ge-funden, einschließlich Pir Vilayat Inayat Khan. Vielen wundervollen spirituellen Wesen begeg-nete ich dabei. Einen Lehrer zu finden hat, auch mit der „Chemie“ zu tun. Es ist nicht entscheidend, was für ein großartiger spiritueller Lehrer es ist. Wesentlich ist die im Herzen gefühlte Verbindung. Obwohl ich wunderbare spirituelle Lehrer getroffen habe, z.B. Jiddu Krishnamurti, gab es nicht eine Herzensverbindung. Es ist nichts Negatives über diese Menschen zu sagen. Es war einfach nicht die rechte Verbindung.

Die Zeit verging und irgendwann habe ich mich verliebt und folgte meiner Geliebten nach Amerika, wo wir geheiratet haben. In England hatte ich als Wissenschaftler gearbeitet und die gleiche Arbeit habe ich dann in Amerika fortgeführt. Es kam dazu, daß mir zwei verschiedene bedeutsame Posten für wissenschaftliche Forschung angeboten wurden.

Es gibt keine bedeutungslosen Zufälle, es gibt einen Grund, warum ich zwei Angebote bekommen hatte. Denn damit war ich gezwungen, zu wählen und eine Entscheidung zu treffen. Und indem wir eine Wahl treffen, definieren wir in Wirklichkeit uns selbst. Natürlich hatte ich keine Ahnung, wohin mich diese Entscheidung führen würde. Das eine Angebot war, in der Raumfahrtindustrie in Los Angeles, das zweite im »Massachusetts Institute of Technology (MIT)« an einer Forschungsaufgabe zu arbeiten. Bei beiden Stellen war die Bezahlung exakt gleich. Bloß war die eine Stelle 3000 Meilen entfernt, die andere hier ganz in der Nähe.

Meine Schwiegermutter meinte, daß das eine einfache Entscheidung sei: „Du nimmst natür-lich die Stelle, die hier bei uns in Los Angeles ist. Die Familie ist hier, die Sonne ist hier, alles klar. Dann sagte ich, daß ich beide Vorstellungsgespräche mitmachen wollte und habe das auch getan. Nach dem Interview in Boston, bin ich dann zu meinen Verwandten nach Connecticut gefahren. Im Garten ging ich um einen Baum herum und sagte immer wieder zu mir selbst: „Was soll ich tun? Wenn ich die Arbeitsstelle in Boston nehmen soll, brauche ich ein Zeichen, wenn ich die in Los Angeles nehmen soll, laß ein Zeichen geschehen.“ Aber es gab keine Zeichen, nichts außer dem Baum und mir. Doch irgendwann sagte ich mir: „Zum Teufel noch mal, ich nehme die Stelle in Boston.“ Dabei war keine Intuition im Spiel, es war eine über’s Knie gebrochene Entscheidung. Es gab keinen besonderen Grund dafür, mich eher für die eine als für die andere zu entscheiden. Die Stelle in Boston schien mir vielleicht ein bißchen interessanter zu sein. Also zogen wir nach Boston um in ein schmuckes Haus, und ich begann mit der Arbeit. Meine Frau interessierte sich für Theater. Eines Tages erzählte sie mir, daß sie etwas ganz Aufregendes gefunden habe: „Es nennt sich »Theater Workshop Boston«. Sie führen Sufi-Lehrgänge durch.“ „Interessant“, sagte ich, war aber nur so halb in-teressiert. Noch immer war ich sehr im Kopf. „Sie verwenden die Sufi-Lehren für das Schreiben und für die Aufführung von Theaterstücken.“ „Hm, interessant. Aber zu welchem Sufi-Orden gehören sie denn?“ „Ich glaube, es ist jemand, der Pir Vilayat heißt.“ Das traf mich wie ein Blitz, der plötzlich erhellte, warum ich die Stelle in Boston gewählt hatte. Es hatte nichts mit »MIT« zu tun, sondern damit, meinen spirituellen Lehrer zu finden. Das ist der Mann, von dem mein Vater gesagt hatte, wenn du ihm jemals begegnest, ist er derjenige, dem du folgen sollst. Aber da ich ja ein Wissenschaftler war, bin ich nicht geradlinig über Bord gegangen. Ich habe mich zurückgehalten und sagte wieder: „Oh, sehr Interessant.“ Also gingen wir hin und haben uns das angeschaut: »Theater Workshop Boston«. Das war ganz interessant. Aber an diesem Ort fand ich Pir Vilayat Inayat Khan. Das war im Staat New York an einem Ort, der »The Abode« heißt. Dort sind wir hingefahren und haben an Seminaren zur Inneren Einkehr teilgenommen. Und ich habe gedacht, „Hm, ein interessanter Mann. Mit dem, was er sagt, stimme ich überein. Aber ich weiß nicht so genau, ob ich von ihm initiiert werden möchte.“ Und dann habe ich wieder zu mir selbst gesagt: „Na ja, wenn es sein soll, dann gibt es ein Zeichen.“ Als ob der Wissenschaftler Gott austesten könnte. Aber Gott spielte bei diesem Spiel nicht mit. Es gab wieder kein Zeichen. Es war nur Stille. Viele Male ging ich dorthin. Und dann war es einmal, daß ich das Gefühl hatte: „Ja, ich will.“ Keine Ahnung, was es in mir war, das mich dazu gebracht hat, das zu sagen. Es war keine Stimme. Irgendwie hat es durch meinen Geist gesprochen: „Ja, ich will.“ Es war also nicht ein überwältigendes Herzgefühl, wogegen ich damals skeptisch gewesen wäre. Und dann hatte ich einen Traum. In dem Traum sah ich eine weite amerikanische Landschaft mit Bergen in der Ferne und einer großen offene Ebene vor mir. In der Ferne sah ich einige Kinder. Und dann gab es da ein weißes Pferd, das begann, auf mich zu zu galoppieren. Es kam bis zu mir hergelaufen und hielt direkt vor mir an, direkt vor meinem Gesicht, schaute mich an und irgendetwas in mir sagte: „Ich kenne dich. Du bist Pegasus.“ Pegasus ist das wundersame Pferd in der griechi-schen Tradition, das Bellerophon auf den Olymp getragen hat. Damit ist auf symbolische Weise ausgedrückt, daß Bellerophon nicht aus eigener Kraft auf den Gipfel des Olymp steigen konnte. Pegasus ist das, was dich trägt, also in Wirklichkeit der göttliche Geist. Nicht aus eigener Kraft kommst du dort oben hin. Genauso war es bei Mohammed, der eine Erscheinung – eine Art Tagtraum – hatte, in den Himmel davon getragen zu werden. um ihn herum waren die Leute skeptisch und forderten ihn auf, seinen Fuß zu heben. Und er erwiderte, daß er das nicht könne. Daraufhin sagten sie zu ihm, wie er dann in den Himmel kommen könne? Seine Antwort war: „Ich habe nicht gesagt, daß ich in den Himmel gegangen bin. Ich bin vom Himmel ergriffen worden.“ Ähnlich in der Bibel, in der überliefert ist, daß der Prophet Elias mit einer Sänfte in den Himmel getragen wurde.

Der Traum mit dem weißen Pferd Pegasus hat mich sehr beeindruckt. Zu der Zeit konnte ich mir nicht erklären, wieso. Aber es schien mir sehr wichtig. Und dann geschah tatsächlich etwas sehr Wichtiges, als ich Pir Vilayat Khan einmal besuchte.


Der Ort, wo die Seminare zur Inneren Einkehr, die „Retreats“, stattfinden, ist sehr schön auf einem Hügel gelegen dort. wo im Staat New York das »Shaker Village« liegt. Meine erste persönliche Begegnung mit Pir Vilayat war auf der Toilette, wo wir nebeneinander standen. Für einen Mann ist es immer ein bißchen peinlich, in einer Toilette neben einem anderen zu stehen: wo soll man hingucken? Man fühlt sich wie eingesperrt und schafft sich seine eigene Privatsphäre, indem man krampfhaft geradeaus schaut. Dennoch bemerkte ich, daß neben mir einer mit einem weißen Gewand stand. Er hatte einen Bart und trug das Derwisch-Gewand. Also habe ich da hingeschielt und irgendwie gegrüßt. Man will ja dem anderen nicht zu nahe treten, will aber auch nicht zu schroff und abweisend sein. Also habe ich ein wenig gelächelt. Und dann hat er das Lächeln erwidert und gesagt, die meisten Leute putzten ihre Zähne nicht, wenn sie kämen, um ihn zu sehen. Ich wußte nicht, ob er damit sagen wollte, daß mein Atem schlecht wäre oder im Gegenteil nicht schlecht wäre. Dann habe ich einfach das Positive angenommen, und wir haben noch ein paar Nettigkeiten ausgetauscht.

Ein paar Nächte später ging ich mit meiner Frau den Berg hinauf zu derselben Toilette. In der Nacht zuvor hatte ich schlechte Nachrichten bekommen. Damals bekamst du die Nachrichten per Telegramm, nicht per E-Mail. Die Nachricht war, daß mein Vater einen Herzinfarkt gehabt hatte. Er war 6.000 Meilen entfernt in Südafrika. Als ich das Telegramm erhalten hatte, war ich sehr erschüttert. Dann ging ich schlafen. Am nächsten Tag sind meine Frau und ich also den Berg hinauf gegangen. Und als ich in die Toilette hineinging, habe ich gemerkt, wie mein Herz schneller und schneller schlug. Wie schnell, weiß ich nicht, vielleicht ca. 200 Schläge pro Minute. „Oh Gott, im Mitgefühl für meinen Vater habe ich auch einen Herzinfarkt“, dachte ich zuerst, dann aber:Nein, er hat den Herzinfarkt und ich kann seine Schmerzen mitfühlen.“ So schnell wie möglich eilte ich aus der Toilette hinaus. Und als ich wieder draußen war, war mein Bewußtsein plötzlich auf eine andere Stufe katapultiert. So etwas nennen wir eine transzendentale Erfahrung. Bis dahin hatte ich keine spirituellen Praktiken ausgeübt und keine „Retreats“ mitgemacht. Das war ein Akt der Gnade – ausgelöst durch dieses weltliche Ereignis mit meinem Vater. Später habe ich verstanden, daß der Schmerz in seinem Herzen sein Herz geöffnet hatte, was wiederum mein Herz geöffnet hat. Als sich mein Herz öffnete, war ich frei, fühlte mich eins mit allem und war voller Frieden. Nicht ein Gedanke, nicht ein Verlangen in bezug auf die Welt. Nur gehen konnte ich nicht richtig und auch nicht ordentlich sprechen. Meine Frau glaubte, ich hätte als Droge »Speed« (Amphetamin) eingenommen. Sie sagte, ich solle mich hinsetzen. Mein ganzes Leben konnte ich vor mir sehen. Alles, wo ich schuld war und fehlerhaft gehandelt hatte. Habe mich deswegen nicht geschämt, aber ich konnte meine Fehler klar sehen. Auch konnte ich sehen, wie man anders – und nicht so – sein könnte. Ich war völlig daneben, überwältigt und konnte nicht mehr funktionieren.

Wenn ich sprach, war es so langsam, daß meine Frau es nicht verstehen konnte. Dieser Zustand hat ungefähr eine Stunde angedauert und ist dann zu Ende gegangen. Es ist eine Art der Erfahrung, die du niemals vergißt. Sie bewirkte, daß etwas in mir erwachte und ich das nochmal erfahren wollte. Ein Wunsch, ein Verlangen war geweckt. Aber wie sehr ich es mir auch wünschte, ich konnte es nicht wiederholen und ward ganz frustriert. Mit anderen Worten: Ich fühlte, wie limitiert und begrenzt ich war. Was ist es, daß das einfach so machen kann? Wie kann es sein, daß es einem dann plötzlich wieder weggenommen wird? Doch bin ich für meine Ausdauer und Beharrlichkeit bekannt. So habe ich mich entschieden, das herauszufinden, was es damit auf sich hat. Es war auf eine unbewußte Weise geschehen und ich wollte herausfinden, wie ich so etwas bewußt herbeiführen könnte? Die Suche und mein Streben wurden intensiver und ich begann, an Seminaren zur Inneren Einkehr, an „Retreats“, teilzunehmen. Ich erinnere mich noch an mein erstes spirituelles „Retreat“. Das war außerordentlich schwer für mich und sehr beschämend. Wenn du dich plötzlich nicht mal auf etwas konzentrieren und meditieren kannst, nachdem du zuvor eine so tiefgreifende Erfahrung ge-macht hast, wo du mit allem eins warst. Das Ego kam dazwischen. Aber ich blieb beharrlich und habe weiter gemacht. Jahr für Jahr sind meine Frau und ich zu „Retreats“ gegangen.

Zunächst möchte ich etwas über die Rolle der Imagination sagen. Für mich sind Imagination und Träume eigentlich das gleiche. Beide sind Brücken zwischen der materiellen Welt und der Welt des mentalen Geistes. In der Imagination und in unseren Träumen beginnen wir, uns selbst zu sehen. Wir beginnen zu erkennen, wer wir als Individuum sind. Das ist nicht die letzte Erkenntnis, aber wir beginnen zu sehen, wer wir wirklich sind – mit allen Stärken und Schwächen. Das ist, was du in Imagination und Träumen siehst.

Dann gab es ein zweites Zeichen.

Dieses besondere Zeichen zeigte sich, als ich bei »MIT« mit einem Kollegen zusammen an einem Problem in der Energieforschung arbeitete. Er schrieb Gleichungen an die Tafel und dann malte er irgendetwas dazu, das aussah wie ein Herz mit Flügeln. Ich war schockiert. Das ist doch ein Wissenschaftler, ein Rationalist. „Warum haben Sie das da hin gemalt?“ „Nur so zum Spiel.“ Ich fragte ihn, ob er wisse, was das bedeute? Nein, er hatte keine Ahnung. Aber bei mir ist es direkt angekommen. In dem Moment wußte ich, daß ich nicht länger ein Wissenschaftler sein konnte, sondern dem Bedürfnis und der Sehnsucht meines Herzens folgen mußte. Ich mußte etwas finden, wo ich auf eine Weise arbeiten könnte, die meinen spirituellen Pfad unterstützen würde. Es war eine schwere Entscheidung, da ich einen Beruf mit hohem Ansehen, ein schönes Zuhause und ein Auto hatte und die Verwandten alle sehr stolz auf den Schwiegersohn waren, der bei »MIT« arbeitete. Das alles aufzugeben be-deutete auch, eine Reihe von Menschen ernstlich zu enttäuschen – auch meinen Vater. Er besuchte mich einmal bei »MIT« – es war sein Wunschtraum gewesen, ein Forscher und Wissenschaftler zu sein. Obwohl er nicht wollte, daß ich in einer Stagnation gelähmt wäre, wollte er auch nicht, daß ich meine Karriere als Wissenschaftler aufgebe. Es war also für mich ein persönliches Dilemma. Aber mein Herz schmerzte. Und daher begann ich die Aus-bildung zum Psychotherapeuten.


In der Zeit gehe ich jetzt etwas weiter. Ich hatte nie vor, auf Dauer in den USA zu bleiben, ich war nur dorthin gegangen, um mein Glück zu suchen. Und die Ironie lag darin, daß ich zwei Schätze fand. Ich verdiente viel Geld, das ich bei meiner Scheidung wieder verlor. Aber ich fand in meinem Herzen einen Schatz, der viel beständiger war. Auf der Reise nach Amerika führte mich meine Frau letztendlich dorthin, wo ich fand, wonach ich gesucht hatte. Es ist ein unermeßlicher Schatz und das ist mir sehr wichtig. Wir kehrten nach England zurück mit der Absicht, in London ein Sufi-Zentrum einzurichten. Ich fand darin auch genug Arbeit, als wir das verwirklicht hatten. Dann passierte noch etwas anderes: Meine Frau verliebte sich in einen anderen Mann und verließ mich und unsere Ehe. Das war für mich äußerst schmerz-haft. Und von da an gingen wir in verschiedene Richtungen. Doch als der Mann, in den sie sich verliebt hatte, sie zurückwies und ablehnte, erlitt sie einen Nervenzusammenbruch. Also versuchte ich, ihr Hilfestellung zu geben, was aber nicht möglich war. Wir durchlebten zu der Zeit eine Art Hölle. Und mittendrin erkannte ich, daß meine Frau in London nicht überleben würde. So riet ich ihr, nach Amerika zu ihren Eltern zurückzugehen, wo sie auch eine gute Behandlung finden konnte. Schließlich machte sie das und ging zurück nach Kalifornien, fand dort auch eine gute psychotherapeutische Behandlung, auch wenn es viele Jahre gedauert hat, bis sie wieder ganz genesen war. Zwischendrin kam sie an einen Punkt, wo sie zu mir und in unsere Ehe zurückkehren wollte. Die Ehe wurde nun für sie das Wichtigste. Aber mir war klar, daß das nicht funktionieren würde, weil der Pfad, dem ich in meinen „Retreats“ folgte, nicht das war, was sie brauchte. Es war für mich die schwerste Entscheidung, ob ich das alles aufgeben sollte, was wir im Sufi-Zentrum aufgebaut hatten, um mit ihr zurück nach Kalifornien zu gehen, und versuchen sollte, die Ehe wiederzubeleben – oder das fortführen sollte, was ich in London machte und was für mich äußerst bedeutsam war. Es war ein furchtbares Dilemma und eine schwierige Entscheidung.

Ich ging damit in ein „Retreat“ an der amerikanischen Ostküste. Es war das schmerzhafteste „Retreat“, das ich je erlebte. Jeden Tag fühlte ich furchtbaren Schmerz im Herzen und rang mit mir, um die richtige Entscheidung zu treffen. Und je deutlicher mir wurde, daß ich in England bleiben sollte, umso deutlicher spürte ich den Schmerz, den ich damit meiner Frau zumuten würde, weil für sie damit eine Welt zusammenbrechen würde. Am Ende des „Retreats“ hatte ich entschieden, was ich tun wollte. Und ich machte mich auf den Weg, um es ihr persönlich zu sagen.


Das ist der zweite Text, den ich Euch vorlesen will. Das zweite Stadium im spirituellen Pfad – im Tal des Lebens – ist das Stadium der bedingungslosen und allumfassenden Liebe.

Mein – in Liebe entflammtes – Herz
entflammte jedes andere Herz, das mit ihm in Berührung kam. 
Mein Herz ward’ auseinandergerissen und wieder zusammengefügt, 
ward’ gebrochen und wieder ganz,
ward’ verwundet und heilte wieder. 
Tausend Tode erlitt mein Herz und letztendlich lebt es doch –
dank der Liebe. 
Durch die Hölle ging ich und sah dort der Liebe tobendes Feuer. 
Den Himmel betrat ich, erleuchtet vom Licht der Liebe. 
In Liebe weinte ich und alle weinten mit mir. 
In Liebe trauerte ich, und das gab einen Stich
in’s offene Herz der Menschen, die bei mir waren.
Als mein Blick auf die Felsen fiel, brachen sie als Lava im Vulkan hervor.
Die ganze Welt versank in der Flut – hervorgerufen von meiner einen Träne. 
Von meinem tiefen Seufzer erbebte die Erde
und als ich nach dem Herrn schrie – dem Namen meines Geliebten – 
rüttelte ich im Himmel am Thron Gottes.
In tiefer Demut senkte ich mein Haupt 
und auf Knien bettelte ich um Liebe.
Verrate mir Dein Geheimnis. 
Sie nahm mich sanft in die Arme, 
hob mich über die Erde hinauf 
und sprach sanft in mein Ohr: 
„Mein Lieber, du selbst bist Liebe, bist der Geliebte,
und ich selbst bin der Liebende, der sich jetzt geschmückt hat.“
Vgl. Hazrat Inayat Khan, Gayan – Vadan – Nirtan, ISBN: 9783923000838

Es geht um die Aufgabe des Eigenwillens und die Kapitulation des mentalen Geistes, der den Verlauf des Lebens nicht unter Kontrolle hat. An dem Punkt erleben wir einen Zusammen-bruch. Wir haben das Unannehmbare zu akzeptieren. Die meisten Menschen neigen dazu, in Bitternis zu verfallen. Aber wenn du das Unannehmbare wahrhaft akzeptieren kannst, dann geht es weiter. Eine andere Dimension deines Seins fängt an, sich zu öffnen, nämlich dein Herz. Der mentale Geist hat zwei Aspekte. Die Oberfläche des mentalen Geistes – das sind die Gedanken – gleicht den Wellen des Meeres, aber die Tiefe des mentalen Geistes gleicht der Tiefe des Meeres, es ist dein Gemüt. Der mentale Geist, der mit der Tiefe des Gemüts verbunden ist, ist viel mächtiger und wirksamer als der an der Oberfläche. Ähnlich bei der Imagination – wenn sich dein Herz öffnet – wirst du fähig, andere Welten und das Licht Gottes zu sehen. Es gibt den mentalen Geist, der sich vom Herzen abschneidet, das nennen wir Denken und das sind dann auch die Probleme der kognitiven Therapie. Aber der mentale Geist, der die Tiefe des Gemüts fühlt und dadurch auch mit dem Herzen verbunden ist, ist fähig, Himmel und Erde – diese Welt und andere Welten – zu sehen. Der begrenzte Geist ist der Geist, der die diesseitige Welt als die einzige Realität annimmt. Dort sind »Ich« und »Du« getrennt. Du bist dort drüben, ich bin hier. Wenn ich sterbe, war’s das, wenn du stirbst, war’s das. Das ist eine Weise, den Ego-Geist zu beschreiben. Er neigt dazu, egozentrisch zu sein und das hat den Zweck, das »Ich« aufrechtzuerhalten. Dann gibt es aber auch einen höheren Geist, etwas in uns, das freigiebig und großmütig ist. Manchmal passiert etwas, bei dem wir über den engen Ego-Antrieb hinausgehen wollen. Das kommt aus der Tiefe des Herzens. Und das setzt sich über den Ego-Geist hinweg. Ein Tsunami aus der Tiefe des Meeres ist viel mächtiger als die Wellen an der Oberfläche des Meeres. Das ist die Kraft des Herzens, die Tiefe des Geistes. Was ist spiritueller Geist? Für mich ist das der unbegrenzte Aspekt des Seins, die Göttlichkeit in uns. Es manifestiert sich zuallererst als Licht, als Licht der Seele, es manifestiert sich in unserem mentalen Geist, wenn wir gute Gedanken haben und wenn wir Gutes tun. Was passiert zwischen mentalem Geist und göttlichem Geist? Manchmal über-nimmt der begrenzte Geist das Ruder und unterdrückt, was der göttliche Geist in uns sagt. Der göttliche Geist ist unbegrenzt, ist ewig und kennt keine Grenzen. Der mentale Geist kennt Grenzen. Wenn sich jemand opfert, bleibt etwas im Herzen ungehört. Wenn es ein kleines Stück guten Kuchens gibt und mehrere Menschen da sind, schneidet sich der mentale Geist oft vom Herzen ab, so daß die Stimme des Herzens ungehört bleibt. Das nennen wir selbst-süchtig oder egoistisch. Wir werden berauscht und vergiftet vom begrenzten Geist.


Auch wenn die für den Vortrag eingeplante Zeit nicht ausreicht, möchte ich doch die verschiedenen Stadien der spirituellen Reise zu Ende bringen. Danach werde ich fragen, ob jemand hier mit einem Traum arbeiten möchte.

Als ich in „Retreats“ mit Träumen gearbeitet habe, habe ich wichtige Dinge herausgefunden. Und zwar habe ich gemerkt, daß Träume eine Form der spirituellen Führung sein können. Und wenn ihr diese Führung ins Bewußtsein rufen könnt, hat das eine sehr weitreichende transformative Wirkung. Und das ist in der Tat mein Hauptinteresse, dem ich in London nachgehe.

Bis jetzt haben wir zwei Stadien der spirituellen Reise behandelt. Die Suche, das war das erste Stadium, in der der mentale Geist bis zur Erschöpfung herausgefordert wird. Dein bisheriges Verständnis wird zerstört. Du kannst nicht länger Entscheidungen fällen auf der Grundlage von logischem Nachdenken. Die Schlüsselentscheidungen, die ich in meinem Leben zu fällen hatte, habe ich getroffen, ohne eine Begründung dafür zu haben, ich war gezwungen, selbst zu einer Entscheidung zu kommen. Irgendwie hat mich das reifen lassen und mir Selbstvertrauen gegeben.

Mein Schwiegervater war ein erfolgreicher Geschäftsmann. Als er dann gehört hat, was ich machen will, sagte er mir, er könne nicht verstehen, warum ich Stunde um Stunde da sitzen und die Probleme anderer Leute anhören wolle. Das Leben sei doch so schon deprimierend genug. Dann fügte er noch hinzu, wozu Meditation denn gut sein solle? „Mir bedeutet das etwas“, erwiderte ich. Woraufhin er sagte: „Na ja, wenn es hilfreich für dich ist, dann muß dabei auch Geld abspringen.“ Und dann habe ich gedacht: „Na ja, irgendwie ist in dem, was er sagt, auch eine Weisheit drin. Denn wenn ich in Meditation sitze, sind dadurch noch nicht die Rechnungen bezahlt. Vielleicht gibt es eine Art der Meditation, die doch irgendwie dazu führt, daß auch die Rechnungen bezahlt werden können.“ In meiner Arbeit mit Menschen habe ich also Meditation miteinbezogen, um ihnen bei ihren Problemen zu helfen.

Das Gespräch mit einer anderen Person, deren Gesicht mir noch vor Augen ist, war für mich sehr hilfreich und wegweisend. Ich sagte ihm, daß ich eine Arbeit suche, mit der ich mein Geld verdienen und meine Interessen verfolgen kann. Als er mich fragte, woran ich denn interessiert sei, gab ich zur Antwort: „An Bewußtsein und Transformation, an Meditation und dem spirituellen Pfad.“ Dann hat er zu mir gesagt: „So eine Arbeitsstelle gibt es nicht. Die mußt du selber schaffen.“ Das ging mitten in mein Herz hinein und ich wußte, daß er recht hat. Also habe ich dann selbst etwas geschaffen, nämlich das Sufi-Institut in London. Der spirituelle Pfad beinhaltet, daß du herausfindest, wer du bist und das dann verwirklichst und in die Welt bringst. Die physische Welt gehört zum spirituellen Leben genauso dazu wie alle anderen Ebenen. Um in dieser Welt zu leben, ist es nicht nötig, deinen Idealismus oder die Sehnsucht deines Herzens zur Seite zu schieben. Es ist nicht unvereinbar.

Das ist ein fortgeschrittenes Stadium auf dem spirituellen Weg, die Manifestation, die Verwirk-lichung des göttlichen Geistes in der physischen Welt.


Die spirituellen Gesetze und Gesetzmäßigkeiten sind andere als die, die in der Welt Geltung haben. Was in der physischen Welt zutreffend ist, ist auf der spirituellen Ebene nicht unbedingt gültig, oder es hat eine andere Bedeutung. Was in der physischen Welt wie Scheitern aussieht, kann also unter Umständen in der spirituellen Dimension einen Triumph bedeuten.

Wenn ich euch die Schwierigkeiten im Laufe meiner Scheidung geschildert habe, sah das so aus, als ob alle Ideale, die meine Frau und ich zusammen entwickelt und gepflegt hatten, zerbröckelten und zerfielen. All das ging zu Ende und ich war mit sehr viel Schmerz konfrontiert. Tatsächlich war es aber eine Vorbereitung für das nächste Stadium. Meistens ist es so, daß man das im Leben nicht sofort, sondern erst später erkennt. Wenn aber dergleichen oft genug passiert, dann beginnst du, dich in schwierigen Situationen daran zu erinnern. Und dein Vertrauen und dein Glaube werden dadurch gestärkt, was sehr wichtig ist.

Wenn etwas schief geht und völlig falsch läuft, dann kann man sich daran erinnern, daß irgendetwas daran sehr wichtig sein muß. Wenn ich verstehen, was ich hier lernen soll, dann kann ich vorwärtsgehen. Das ist das Einzige, was wirklich zählt. Mißerfolge oder Erfolge an sich haben keinen besonderen Wert. Wie und was du im Leben sein kannst, ist das, was zählt. Kannst du mit dir selbst in Frieden sein, kannst du Sinn und Bedeutung in deinem Leben finden, kannst du im Frieden mit anderen Menschen sein und kannst du das Göttliche im Leben finden? Wenn du dazu in der Lage bist, ist das der größtmögliche Segen.

Betrachten wir noch die weiteren Stadien, wenn ich es schnell mache, soll das nicht heißen, daß sie weniger wichtig wären. Diese Stadien wirklich in der Tiefe zu durchdringen, braucht ein ganzes Leben.

Ich sprach von der Ankunft im Tal der Liebe. Das Herz öffnet sich. Jedes Jahr nahm ich an „Retreats“ teil. Einer meiner Träume während eines „Retreats“ hat mich gelehrt, daß ich unabhängig werden muß, was ich erst noch lernen mußte. Nur eine bestimmte Strecke des Weges kannst du durch deinen Lehrer geführt werden.

In meinem Traum war mein Lehrer mir gegenüber. Wir saßen beim Abendbrot an einer sehr langen Tafel. Mitten in der Mahlzeit stand er auf, beugte sich in meine Richtung und traf mit einem unverhofften Hieb mein Herz, ein sehr schmerzhafter Schlag. Dann ging er einen Schritt zurück und lachte.

Später habe ich erkannt, daß meine persönliche Abhängigkeit von ihm damit zu Ende war. Es war nicht wirklich er, der mir einen Hieb versetzte, es war meine eigene innere Führung, die mir in der Gestalt meines spirituellen Lehrers sagte, daß es an der Zeit ist, auf eigenen Füßen zu stehen. Der Hieb auf mein Herz war die Durchtrennung der Anbindung. Weder hörte ich auf, meinen Lehrer zu lieben noch hörte ich auf, ihn zu respektieren. Es war einfach an der Zeit, den aus dem Herzen kommenden Impulsen für meine eigene Inkarnation zu folgen.


1998 war das erste „Retreat“, an dem ich teilnahm, und dann folgte eine Zeit von acht, neun Jahren. Es war nach dem „Retreat“, von dem ich erzählt habe, wo ich diesen Schmerz im Herzen hatte und entscheiden mußte, ob ich mich von meiner Frau trenne. Denn ich dachte, für sie hätte sich etwas wiederholt und fortgesetzt, wenn ich bei ihr geblieben wäre, Mein spiritueller Geist wollte fliegen und ihrer wollte am Boden bleiben. Zum Glück kann ich sagen, daß sich letztendlich herausstellte, daß es eine gute Entscheidung war. Von da an, als ich ihr sagte, daß die Ehe zu Ende ist, fing sie an zu gesunden. Innerhalb von zwei Jahren mußte sie keine Medikamente mehr nehmen und dann hat sie wieder geheiratet. Und jetzt sind wir gute Freunde.


Es war ein Lehrstück für mich. Du kannst dich nicht darauf verlassen, wie eine bestimmte Situation dir erscheint oder wie du sie beurteilst. Es gibt da noch etwas anderes – in deinem Herzen, das darauf wartet, hervorzubrechen. Ist dein Herz aber unruhig und in Aufruhr, dann bist du nicht in der Lage, klar zu sehen. Wenn der Grund eines Sees nach oben geschwemmt wird, dann kannst du im Wasser nichts mehr sehen, weil alles aufgewühlt ist. Ist der See aber ruhig, so wird der See klar und du kannst durch das Wasser bis zum Grund schauen. So ist es auch mit dem Herzen. Wir werden manchmal durch Probleme und Entscheidungen im Herzen so aufgewühlt, daß wir nicht mehr klar sehen können.


Bei einem richtig langen „Retreat“ macht man spirituelle Übungen, fastet und meditiert über 40 Tage. Das erste richtig lange „Retreat“, das ich organisiert und geleitet habe, wurde für mich zu einer Erfahrung, nach der ich gesucht habe und folgte dem, was ich im ersten „Retreat“ erfahren habe, an dem ich 1978 in New York teilgenommen habe. All die Jahre waren wie eine Vorbereitung. In den Jahren des Ringens, der Ehe, der Suche nach der gemäßen Arbeit wurde das Herz vorbereitet. Und dann braucht es nicht mehr viel. Dieses „Retreat“ im Jahr 1998 war wie eine Offenbarung. Es war wie eine Atomexplosion. Wieder habe ich die Erfahrung gemacht, daß die Seele frei ist und erfahren, was die Yogis das kosmische Bewußtsein nennen, den Heiligen (göttlichen) Geist.

Und irrtümlicherweise dachte ich: „Das ist es, ich hab’s. Ich kann’s kaum abwarten, es allen zu erzählen.“ Das war es aber nicht. Es war nur eine Öffnung des Herzens. Aber sie hatte die gleiche Kraft wie die Erfahrung zehn Jahre zuvor im Staat New York und dieses Mal war es bewußt.

Im Sufismus sagen wir, daß es zwei Weisen gibt, den göttlichen Geist zu erfahren. Die eine wird als Ḥāl bezeichnet, es ist eine Gnade, die einem widerfährt. Es ist eine spirituelle Verfassung, die unverhofft von dir Besitz ergreift. Du hast keine Kontrolle darüber, wann es kommt und wann es geht. Das war meine erste Erfahrung im Jahre 1978. Aber zehn Jahre später im Jahre 1988 war es die Erfahrung, die von den Sufis als Maqām bezeichnet wird und

eine Station in der spirituellen Entwicklung darstellt, nämlich die Station im Tal der Liebe. Um zu dieser Station zu gelangen, mußt du es dir verdienen, du mußt es dir erarbeiten. Es ist erforderlich, dir über dich selbst klar zu werden, dich zu reinigen und leer zu werden – jeden Tag leerer und leerer. Wenn du eine Maqām-Erfahrung hast, ist sie von Dauer. Du kannst diesen Zustand jederzeit wieder erfahren. Aber ein Ḥāl widerfährt dir, es ist ein Akt der Gnade, der kommt und wieder geht, ohne daß du Einfluß darauf hättest.

Zwischen 1988 und 1998 ging ich durch eine Serie von Maqām-Erfahrungen. Das Innen-leben, die inneren Welten haben sich mir als Landschaften eröffnet. Man sieht die astralen Welten, die himmlischen Welten. Was immer du siehst, ist das, was du auf diesen Ebenen erschaffen hast. Und du bemerkst auch, was fehlt. Zum Beispiel hatte ich einen Traum, in dem ich in ein Restaurant ging. Zu der Zeit war ich sehr streng mit mir, wenn ich gefastet habe – ein asketischer Zustand. Im Traum ging ich also in das Restaurant, wo man ja normalerweise Essen bekommt. Nachdem ich mich hingesetzt hatte, fragte ich, ob ich das Menü sehen könnte? Der Kellner gab mir die Menü-Karte. Dort sah ich, daß es hier nur Brot und Wasser gab. Der Kellner sagte mir: „Ja, tut mir leid. Das ist das Einzige, was wir haben.“ Als ich aufwachte, war mir klar, daß ich zu wenig an’s Essen gedacht habe. Seitdem Essen mir nicht so wichtig war, hatte ich kein Essen mitgenommen, wenn ich in die inneren Welten gereist bin. Ich hatte keine Vorsorge getroffen. Was du wertschätzst und auch, was du haßt, nimmst du mit. So erschaffst du deinen eigenen Himmel und deine eigene Hölle.


Das nächste Stadium nach dem Tal der Liebe ist das Tal des Wissens. Das ist das Stadium, in dem sich das Herz öffnet und dir ein Wissen über dich selbst offenbart. Es zeigt dir, was du dir selbst antust und auch, was an dir selbst wertvoll ist. In Träumen, Visionen oder Offenba-rungen siehst du also, was in dir, aber noch nicht bewußt ist.

Irina Tweedie hat in ihrem Buch »Der Weg durchs Feuer« beschrieben, was man auf diesem Weg erfahren kann. Es wird dir auch offenbar, was in den Seelen anderer Menschen verborgen ist – verschiedene Arten von Himmel und Hölle. Du siehst unglaublich Schönes und das Schrecklichste. Es stellt dein Vertrauen, deinen Glauben auf die Probe.

Ich erinnere mich an ein „Retreat“, in dem ich 40 Tage, jeden Tag 20 Stunden, in der Hölle verbracht habe. Das Einzige, was mir geholfen hat, weiterzumachen, ist der Glaube. Deine Aufrichtigkeit wird auf die Probe gestellt. Wie aufrichtig bist du und wie weit bist du bereit, dich selbst aufzugeben, dich zu übergeben? Das ist, was leer werden bedeutet. Wie viel bist du bereit zu geben? Wenn du etwas zurückhältst, dann hält dich das zurück und hindert dich am Weitergehen.


Und die andere Qualität, die ich auf meinem Weg als wichtig erkannte, war, furchtlos zu sein. Alles Schreckliche, was auftaucht, hat keine endgültige Realität. Es gibt nichts, vor dem man sich fürchten muß. Es gibt ein Sufi-Gebet und da heißt es, es gibt nichts außer Gott. Jede Vision, jedes Bild, jeder Traum, der zu dir kommt, hat keine ultimative Autorität oder Wahrheit. Es ist Illusion. Die Sufis sagen jedoch, daß es eine Abstufung der Illusionen gibt.

Am Anfang verschlingt dich deine Illusion geradezu. Daher kommt es, daß Leute sagen, es mit spiritueller Praxis versucht zu haben und daß es für sie einfach nicht funktioniert habe. Sie geben zu leicht auf. Wenn du jedoch weitergehst, wird das Ego sozusagen dünner. Die Illusionen werden weniger verschlingend, sie haben nicht mehr soviel Macht über dich. Das ist das Stadium, in dem die Wahrheit deines Seins errichtet und gefestigt wird. Du kannst alles sehen, was gut in dir ist und auch alles, was in dir verzerrt ist. All diese Verzerrungen – das ist die gute Botschaft – können verwandelt werden, wenn deine Sehnsucht nach dem Göttlichen aufrichtig ist. Wenn deine Sehnsucht die stärkste Kraft in dir ist, dann werden sie auch transformiert. Und wenn sie transformiert sind, nennen wir das spirituelle Weisheit. Was in uns verzerrt ist, wird durch Mitgefühl transformiert, mittels echten Mitgefühls, nicht Mitleid mit dir selbst. Sanft und demütig deine Begrenzungen anzuerkennen und gleichzeitig zu ver-trauen, daß diese Begrenzungen mit der Hilfe des Heiligen (göttlichen) Geistes transformiert und überschritten werden können.

Das nächste Stadium ist das Tal der Vernichtung. Die Sufis haben dafür das Wort »Fanā'«, was Erlöschen des Ich-Bewusstseins, Vernichtung bedeutet. Und es gibt das Wort »Baqā’«, was die Wiederauferstehung bedeutet. Es geht also um Kreuzigung und Auferstehung.

In einem Traum, den ich während eines „Retreats“ hatte, war ich mit einer Frau zusammen, die meine Partnerin war. Im Traum sagte ich ihr, wir müssen dieses Gift zu uns nehmen, denn wir müssen sterben. Das war nicht mein Ego, das das sagte. Als ich erwachte, war ich ganz erschrocken und dachte, es ginge hier um Suizid. Aber das ist der Kleingeist, der mentale Geist, der hier spricht. Wenn du auf dem spirituellen Pfad an bestimmtes Stadium erreichst, bist du selbst in Träumen klar. Und du weißt, was geschehen muß. Tatsächlich tranken wir im Traum beide das Gift und starben beide. Das war die Schwelle eines weiteren Übergangs, nämlich die menschlichen Begrenzungen zu überschreiten. Die Sufis nennen das das Tal der Einheit. Es ist der Anfang davon, den grenzenlosen Geist zu erleben. Was ich bis jetzt be-schrieben habe, ist die Erfahrung der Seele. Wir erschaffen im Leben ständig seelische Erfahrung und dadurch wachsen und reifen wir als Seele. Auch wenn die Seele bei Geburt rein und unschuldig ist, so ist das jedoch nicht bewußt. Reifen bedeutet also Bewußtwerdung.

Und bewußt wird man nur durch Erfahrung. Du mußt alle möglichen Erfahrungen durch-machen, um zu erkennen, wozu du fähig bist. Das ist mit der Erschaffung seelischer Erfah-rung gemeint. Die reiche Seele ist eine, die sehr viel erfahren und dennoch ihre Unschuld nicht verloren hat. Die verbreitete Vorstellung von Seele ist die unschuldige Seele, die keine Lebenserfahrung hat.


Das nächste Stadium ist das Stadium der Transzendierung des Seelenbewußtseins.

In einem Traum stand ich an einer Balustrade und stürzte über das Geländer nach unten und während ich fiel, war alles schwarz, ich fiel in ein schwarzes Loch. Und das Fallen hörte nicht auf. Im schwarzen Loch fiel ich Stunde um Stunde. Das Wichtigste dabei war, zu glauben, daß alles in Ordnung ist. Wenn du in Panik gerätst und meinst, das nicht annehmen zu können, sagt das dein Ego und das führt in die Schizophrenie. Aber indem ich dabei blieb, gab es etwas in mir, das Vertrauen hatte. Irgendwann war ich mir des Fallens nicht mehr gewahr und es blieb nur ein Gefühl der Leere, unbeschreiblich friedvolle Leere. Es war wie Sterben. Von da an kamen die „Visionen der Smaragdina“, die smaragdene Schau, was bedeutet, daß du anfängst, die Wirklichkeit zu sehen. Es ist eine tranzendentale Erfahrung. Wir nennen das das Tal der Tranzendenz. Es ist ein Zustand der Nicht-Existenz. Du bist dessen gewahr, daß etwas wie du selbst da ist, aber dann erfährst du unvermittelt ein inneres Bild, eine Schau oder ein Licht. Und in dem Augenblick gibt es nichts anderes als die Vision oder das Licht, dich selbst gibt es nicht, Im Sufismus sagen sie, daß es das Ziel sei, den Moment, den Augenblick, auszudehnen, ihn zu halten. Eigentlich ist damit gemeint, daß der Moment dich hält und du dessen gewahr bist. Und je länger er dich hält, um so mehr offen-bart er sich dir in den „signs of the Ayat“, den Zeichen Gottes. Es sind Erfahrungen des Eins-seins. Etwas in dir, nämlich die Göttlichkeit in dir, wird dir gezeigt. Im Zen-Buddhismus heißt es, zwischen Einatmung und Ausatmung sei ein Moment der Vollkommenheit, ein punktueller Zustand. Wenn du dieses Momentes vollständig gewahr sein kannst, führt das in’s Nirwana.


Es gibt noch ein Tal, das ich noch nicht erwähnt habe, nämlich das Tal der Zufriedenheit, über das ich jedoch nicht sprechen kann, weil es bisher noch nicht bei mir angekommen ist.


Träume sind wie Schnappschüsse, die die Interaktion zwischen dem mentalen Geist, dem Gemüt, also dem, was du im Herzen fühlst, und dem göttlichen Geist aufzeigen. Träume sind eine Mischung aus dem göttlichen Geist und dem mentalen Geist mitsamt den Gefühlen, die vom mentalen Geist erzeugt werden. Es gibt also keinen Traum, der nicht etwas vom göttlichen Geist enthält, und es gibt keinen Traum, der nicht etwas von deiner Persönlichkeit und ihrem beschränkten Bewußtsein enthält. Nur wenn dein mentaler Geist klar und dein Herz wie ein Spiegel ist, dann ist der göttliche Geist sehr klar und du kannst ihn in dem Traum sehen. Er zeigt sich als Licht, anfangs als Farben. Für Alkoholiker, auch für andere Drogenabhängige ist es oft schwer, sich überhaupt an Träume zu erinnern. Oft erfahren sie innerlich schwarze Zustände. Wenn sie aber von ihrer Abhängigkeit genesen, beginnen sie, sich an ihre Träume zu erinnern. Und die Träume beginnen in schwarz/weiß, wie alte Filme. Wenn Farbe aufzutauchen beginnt, dann ist das sehr wichtig, weil wir dann wissen, daß die Gefühle der Person im Traum auftauchen. Wenn die Träume mehr und mehr von Farben und Licht erfüllt werden, dann wissen wir, daß der göttliche Geist sich zu zeigen beginnt.


Es gibt auch ein Stadium, in dem es in den Träumen keine Bilder mehr gibt, sondern nur noch Licht. Das ist ein Stadium der Nicht-Dualität.


Meine Hoffnung war, euch zu zeigen, wie ihr euch von Träumen auf dem spirituellen Pfad leiten lassen könnt. Wenn ihr mit einem Traum arbeitet, also auf bewußte Weise mit ihm interagiert – insbesondere wenn ihr dabei den physischen Körper nutzt – könnt ihr den Traum im Körper verfolgen. Ihr könnt durch die verschiedenen Phasen des Traums gehen und auch im Körper verfolgen, wo ihr seid. Im Sufismus betrachten wir den Körper als Tempel, eine spirituelle Schablone, mit der ihr arbeiten könnt, um Erleuchtung zu erlangen. Es ist keines-wegs bedeutungslos, wenn jemand sagt, ich ging in nördlicher Richtung nach Stockholm. Es ist nicht Fantasie. Das deutet daraufhin, daß die Person in den Chakras nach oben geht. Oder wenn ich sage, ich ging nach Südafrika, dann geht man zum Wurzelchakra. Und ihr taxiert und bewertet die Chakren nicht. In die eine Richtung zu gehen, ist ebenso gut wie in die andere Richtung zu gehen. Wenn ihr nach links geht, geht ihr nach Osten, Richtung Orient. Die Sufis sagen, im ersten Stadium fühlst du es im physischen Herzen. Den Schmerz meiner Trennung und Scheidung habe ich hier im physischen Herzen und auch im Herz Chakra gespürt, die miteinander verbunden sind. Wenn man in einem Traum nach Osten geht, ist man dabei, sich selbst zu finden. Nach rechts zu gehen, bedeutet, sich auf die Welt zuzubewegen, sich dem kleinen Geist zu nähern, in Richtung Okzident. Das sind einige grundlegende Ideen darüber, wie wir mit dem Körper arbeiten. Wir nutzen den Körper und folgen den Symptomen durch den Körper. Der therapeutische Begleiter in diesem Prozeß wird dich einladen, den Fokus der Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Stelle zu lenken. Sobald man das tut, öffnet sich die psychische Energie in diesem Teil. Alles was mit den Beinen zu tun hat, steht mit dem ersten oder zweiten Chakra in Verbindung. Alles im Bereich der Lungen und des Herzens steht mit dem Herz-Chakra in Verbindung. Alles in Armen und Händen steht ebenfalls mit dem Herz-Chakra in Verbindung. Alles, was nach innen geht und mit Macht zu tun hat, ist mit dem dritten Chakra in Höhe des Solar Plexus verbunden. Alles, was du um die Schultern herum und im Nacken spürst, ist mit dem Hals-Chakra verbunden. Und alles um die Augen-Region ist mit dem dritten Auge verbunden. Das Kronen-Chakra ist mit dem Nervensystem verbunden. Das sind die grundlegenden Ideen, die als Landkarte dienen können.


Wenn hier jemand mit einem Traum arbeiten möchte, ist das eine Möglichkeit euch sehen zu lassen, welchen Wert das hat und was dabei geschehen kann.

Wir beide sind jetzt exponiert hier. Wir wollen versuchen, dafür sensibel zu sein. Wenn es irgendwas gibt, womit du dich nicht wohlfühlst, sag’ es einfach. Das Wichtigste ist, daß du dich sicher und getragen fühlst.
Zunächst erzähl mir den Traum. Dann werde ich ein paar Kommentare zu dem Traum sagen, die die Aufmerksamkeit auf das lenken, was vielleicht interessant oder wichtig an dem Traum ist.
Dann werde ich dich bitten, die Augen zu schließen. Und wir werden mit dem Traum arbeiten.
Ich werde dich auffordern, immer wieder im Körper rückzufragen und dort den Traum zu verfolgen und nachzuprüfen. In der Hoffnung, daß der Traum sich uns enthüllt.
Der Traum handelt im Sommer, wo es jeden Tag ein Schiff gibt, was zum Festland fährt. Ich komme von der Insel Helgoland und bin da aufgewachsen und habe die Insel verlassen, wie ich 17 Jahre alt war, um zum Festland zu gehen, um dort weiter zur Schule zu gehen.
Dieser Traum verfolgt mich, seit ich die Insel verlassen habe, daß ich das letzte Schiff nicht schaffe. Im Sommer, wenn die Schiffe auf der Rede ankern, fahren die kleinen Wärterboote dahin und bringen einen zu dem Schiff. Das ist um halb fünf, das letzte Boot, das die Insel verläßt. Dann kann man es schaffen, mit dem Schiff wegzufahren. Aber am nächsten Tag kommen die Schiffe alle wieder und ich könnte den nächsten Tag fahren. Helgoland ist auch zollfrei und immer auf dem Weg zum Schiff – ich verlasse das Haus immer um halb vier. Dann habe ich eine ganze Stunde, um zum Boot zu kommen. Wenn man flott geht, dauert das maximal sieben, acht Minuten, bis man da ist. Ich muß immer in diesen Geschäften einkaufen, Zigaretten und Alkohol, was überhaupt nicht wichtig ist. Aber anscheinend viel-leicht doch. Es ist dutyfree, es ist billiger als auf dem Festland. Ich werde total panisch, weil lange Schlangen an der Kasse sind. Ich denke immer, oh Gott, oh Gott, ich schaffe das letzte Schiff nicht. Dann wache ich auf und dann weiß ich nicht, ob ich das Schiff geschafft hätte oder nicht. Und den nächsten Tag fahren die Schiffe wieder. Es ist überhaupt nicht schlimm, wenn man das nicht schafft.
Was bedeutet Helgoland für Dich?
Viel! Ich bin dort zur Schule gegangen. Ich bin da aufgewachsen. Meine Kindheit habe ich da verbracht. Ich war bei meinen Eltern und war glücklich dort. Meine Mutter starb, als ich 13 war. Und mein Vater heiratete wieder als ich 15 war. Er hat eine richtige Märchenbuch-Stief-mutter geheiratet. Ich hab mich total unwohl gefühlt. Aber mit Helgoland an sich verbinde ich positive Erinnerungen. Als ich die Insel verließ, war ich verzweifelt, denn ich haßte die ganze Situation.
Was ist mit der Liebe zur Insel geschehen? Du hast das Gefühl der Liebe für die Insel verlo-ren. Bis zum 12. Lebensjahr hat sich dort alles gut angefühlt. Und dann ist etwas geschehen, das sehr schmerzlich war. Es scheint, daß etwas verloren ging. Wo ist das hingegangen? Ist es noch da? Was ist mit der Liebe geschehen, die du in den ersten Jahren auf Hegoland gespürt hast?
Ich verliebte mich, als ich Helgoland verließ. Innerhalb eines Jahres habe ich diesen Mann geheiratet.
Aber wenn du an Helgoland denkst, was kommt dann in dir hoch?
Stress.
Deswegen brauchst du Alkohol und Zigaretten. Manche von uns brauchen Fernsehen. Man-che brauchen Mobiltelefone. Aber wir alle brauchen etwas. Wenn du diese Krücken nicht hättest, was würdest du fühlen?
Leere.
Es ist sehr wichtig, bei der Leere zu bleiben, sie zu fühlen und nicht zu versuchen, sie mit irgendwas zu füllen. Die Leere täuscht. Sie ist nicht das, was du von ihr denkst. Wir kehren immer wieder zu einem Ort zurück, weil etwas unvollendet, unabgeschlossen ist. Die Psycho-logen würden wahrscheinlich sagen, daß es da irgendetwas in deinem persönlichen Leben gibt, das verloren ging. Es ist wichtig, daß du dir diesen Verlust eingestehst und ihn akzep-tierst. Mit anderen Worten: komm und akzeptiere die Leere. Aber psychologisch ist das natür-lich sehr schwer, Leere zu akzeptieren. Es ist so, wie den Tod zu akzeptieren. Das ist gar nicht der Bereich der Psychologie. Die Psychologen überlassen diese Bereiche den Pastoren. Das ist nämlich zu schwer zu erklären und unbequem. Weil die Psychologen selber Angst vor dem Tod haben. Aus spiritueller Sicht gibt es da etwas für uns, vielleicht ruft uns die Leere. Mit anderen Worten: unsere Wunden, die Löcher in unserer Psyche, in Gemüt oder Verstand, öffnen uns für das Transpersonale. Wunden müssen versorgt und verarztet werden, doch sind sie auch ein Zugang zu etwas viel Bedeutsamerem. Jedenfalls ist das meine Erfahrung gewesen.
Also das nur einfach so zu akzeptieren, habe ich schon Jahre lang probiert, das klappt irgendwie nicht.
Deswegen hast du ja auch den Traum immer wieder und immer wieder. Etwas anderes ist noch nötig. Wir versuchen damit zu arbeiten, vielleicht geschieht so etwas. Schließ’ bitte die Augen, vergiß diesen Raum und werde dir deines Körpers bewußt. Atme mehrmals durch die Nase ein und durch den Mund aus.
Laß uns zum Anfang deines Traumes zurückkehren. Beschreibe mit geschlossenen Augen den Traum, was für eine Landschaft war es, welche Zeit, was für eine Atmosphäre?
Es ist eine Art Nervosität im Zimmer.
Wo spürst du die Nervosität in deinem Körper?
In meinem Kopf.
Geh zu dem Punkt in deinem Kopf, wo du diese Nervosität spürst. Kannst du das finden?
Im Hinterkopf.
Ist es irgendwo beim Nacken?
Mehr oben.
Geh’ dorthin nach oben, wo du das spürst. Konzentriere dich auf den Teil und sag mir, was du erlebst.
Es ist warm.
Lenk die Aufmerksamkeit auf die Wärme. Was geschieht damit? Was erfährst du jetzt?
Aufregung und Angst.
Wo spürst du die Angst? Geh zu dem Punkt. Wie ist es jetzt?
Ist jetzt weg.
Das war der erste Schritt.
Schau dich um, beschreibe die Szenerie, die du vor deinem inneren Auge siehst.
Das ist das Haus, in dem wir lebten, die Straße, es ist nahe beim Friedhof.
Das ist auf der Insel. Laß uns nochmal zurückgehen zu dem Punkt, wo du aufs Boot kommst. Ein bißchen zurück. Stell dir vor, du bist auf dem Boot. Das Boot ist noch mit dem Anker fest-gemacht. Stell dir vor, du kannst diesen Anker fühlen, in deinem Körper fühlen. Wo wäre das?
Im Rücken.
Auf der Rückseite des Solar Plexus. Geh’ zu diesem Teil des Körpers. Konzentriere dich darauf. Und dann sag mir, was geschieht.
Schwere.
Was für eine Art von Schwere?
Gefesselt.
Ich glaube, etwas in dir ist gefesselt. Es ist gut, wenn du dich darauf konzentrierst und mit der Aufmerksamkeit einfach dabei bleibst. Wenn sich irgendwas ändert, laß es mich wissen.
Ich denke über den Anker nach.
Denk’ nicht darüber nach, fühle es stattdessen in deinem Körper.
Schau, ob es dich verbindet mit irgendwelchen Gefühlen, Erinnerungen oder Gedanken.
Nein.
Was fühlst du jetzt auf der Rückseite des Solar Plexus?
Besser.
Jetzt können wir weitergehen. Stell dir vor, du bist im Boot und wirst zur Insel getragen. Beschreibe, wie sich das anfühlt, im Boot zur Insel getragen zu werden.
Ich liebe es.
Wie fühlt sich das an?
Sehr gut.
Wie ist das im Kontrast dazu, auf dem Festland festzusitzen?
Sehr leicht und ich fühle ein Lächeln.
Also fühlt es sich im Solar Plexus okay an?
Ja.
Gut. Dann laß uns in der Arbeit mit dem Traum weitergehen bis zu dem Punkt, wo du die Insel erreichst. Wenn du die Insel erreichst, in welchem Körperteil steckt die Insel in dir?
Herz.
Halte dein Herz mit der Hand und konzentriere dich darauf. Nicht den Solar Plexus, das Herz. Konzentriere dich auf’s Herz. Was fühlst du dann?
???
Was ist gut?
Die Gegend, das Lächeln, die Geräusche.
Die Landschaft.
Die Gesichter. Die Leute, die ich kenne. Die Sprache, die ich spreche.
Wie verändert das dein Gefühl – wenn du ein anderes Wort als „gut“ verwendest?
Glücklich.
Was ist schlecht an der Situation?
Niemand wartet auf mich.
Niemand will sich mit dir verbinden. Wie fühlt sich das an?
Scheußlich.
Ich möchte, daß du mutig genug bist und in dieses Gefühl hineingehst. Zuvor sagtest du, es war eine Leere, die zu spüren auch sehr schmerzlich ist, aber wenn du genug Vertrauen haben kannst, da einfach hineinzugehen – keine Gedanken, keine Urteile, es einfach erleben.
Sei einfach mit dieser Art der Leere. Denk nicht darüber nach. Erfahre es einfach. Wenn sich irgendetwas verändert, gib mir Bescheid.
Es ist okay.
Bleib dabei, bleib dabei. Je länger du mit der Aufmerksamkeit dabei bleibst, umso besser. Wie ist es jetzt?
Es ist okay.
Konzentriere dich auf dieses Gefühl, das dir sagt, daß alles in Ordnung ist, und spüre es in deinem Körper. Und nutze dein Vorstellungsvermögen und laß dieses Gefühl sich ausbreiten  in Arme und Hände hinein, nach oben bis in den Kopf und nach unten bis in Beine und Füße. Kannst du das tun? Was geschieht jetzt, wenn du dir das vorstellst?
So etwas wie ein kleiner Angriff in meiner Leere. Es ist jetzt wieder gut. Ich fühle mich besser.
Konzentriere dich weiter darauf. Es ist nichts, was du mit dem Verlust tun mußt oder kannst, einfach nur in der Leere sein. In der Leere ist die Antwort. Ist das eine Hilfe? Das ist eine Praxis der Meditation, die ich dir täglich zu üben vorschlage. Alle Schritte, die wir gemacht haben, von Beginn an nochmal nachvollziehen. Angefangen mit dem Zeitpunkt, wo du gerade aufs Boot steigst, dann auf dem Boot bist, dir auf der Insel des Schmerzes und Verlustes bewußt bist  und dann dabei verweilst. Wie ich vermute, wirst du in der Lage sein, mittelfristig immer wieder zu dem Gefühl, daß alles in Ordnung ist, zu kommen. Ich glaube, daß du in deinem Bewusstsein allmählich eine Veränderung zustande bringen wirst – vom Denken und der Erfahrung von Verlust hin zu einer Erfahrung von Vertrauen und Akzeptanz.
Das leugnet nicht den Verlust, den du erfahren hast. Vielmehr ist es eine wahrhaftige Akzeptanz, bei der du erkennst, daß du in Ordnung bist, auch wenn dieser Verlust tatsächlich stattgefunden hat. Nichts von dauerhaftem Wert ist verloren gegangen. Das ist wichtig. Nichts von dauerhaftem Wert ist verloren gegangen. Manchmal verfangen wir uns in der Illusion, daß uns etwas weggenommen wurde und wir können es nicht zurückholen. Wie fühlt sich das an?
Es ist irgendwie komisch, seltsam.
Man sagt, der Teufel steckt im Detail. Der entscheidende Schlüssel ist, nicht darüber nachzudenken, einfach nur damit sein. Das ist der Kampf. Der Verstand will zurückgehen zu den alten Anschauungen. Denn das ist, was der Verstand versteht. Und du nimmst deinen mentalen Geist mit und gehst zu einem anderen Ort in dir, du nimmst das Denken mit in’s Herz, wodurch Einsicht möglich wird und letztendlich es auch der mentale Geist verstehen kann. Mit anderen Worten: du mußt so viel und oft bei der meditativen Erfahrung bleiben, daß sie für dich wirksam wird, bis sie schließlich die Stelle der alten Erfahrung einnimmt.


Meditation richtet den mentalen Geist neu aus, kehrt ihn nach innen um. Das hat mich die Erfahrung gelehrt. Es ist nichts unrecht am mentalen Geist, es ist die Art und Weise, wie wir ihn gebrauchen. Den mentalen Geist umzudrehen bedeutet, ihn von seinen Gewohnheiten zu befreien und dann neu zu beginnen. Aber der mentale Geist muß etwas Reales haben, woran er sich festhalten kann, eine reale Erfahrung. Daher müssen wir wieder und wieder damit arbeiten, bis du mühelos Zugang hast zu dem Ort in dir, wo alles in Ordnung ist. Meditation und Imagination brauchen wir, um den mentalen Geist zu heilen.

Es ist der mentale Geist, der das nicht akzeptieren will, nicht das Herz. Der mentale Geist sieht alles auf eine dualistische Weise, die Menschen, die ich geliebt habe, habe ich verloren und ich kann nichts daran ändern. Als ob das die einzig mögliche Sichtweise wäre. Aber das ist es nicht. Und das mußt du dir selbst beweisen, damit es für dich zu einer Gewißheit wird. Nicht durch Gehirnwäsche, sondern durch Erfahrung. Ich hoffe, das hilft dir.


Frage zur Bedeutung von Zahlen im Traum

Die Psyche, damit sind der mentale Geist und das Herz gemeint, sucht Gleichgewicht zu be-wahren oder – wenn verloren – wieder herzustellen. Die ganze Zeit sind wir in einem Zustand von Ungleichgewicht.

Es ist nur der göttliche Geist, der sich für vollkommenes Gleichgewicht entschieden hat. Wenn der göttliche Geist anfängt, den mentalen Geist und das Herz zu durchdringen, dann tauchen in den Träumen Zahlen auf. Die Zahlen repräsentieren eine Art von Symmetrie, die sich in deiner Psyche etabliert.

Ich sag’s mal ganz einfach: Wenn es etwas gibt, vor dem du unbewußt Angst hast, dann ist da ein Ungleichgewicht zwischen dem, was dir bewußt ist und dem, was darunter im Unbe-wußten ruht. Wenn du dem, wovor du Angst hast, erlaubst hochzukommen, in’s Gleichgewicht gebracht und auch vom mentalen Bewußtsein wahrgenommen zu werden, dann gibt es wieder eine Balance zwischen Bewußtem und Unbewußtem. Mit anderen Worten: Etwas in dir ist in den Träumen als eine Art symmetrischer Struktur zutage getreten.

Dann erscheint z.B. die Zahl 2, oder dir erscheinen alle möglichen Zahlen, die den Aufbau einer symmetrischen Struktur in deinen Träumen darstellen. Das ist ein interessantes Thema, das ein ganzes Studium erfordert.


Es gibt ein Tal zwischen dieser Welt und der nächsten und wenn du es überquerst, fällt alles in Vergessenheit. Wenn du träumst, vergißt du die Welt des Wachbewußtseins, wenn du aufwachst, vergißt du, was du geträumt hast. Es ist wie ein Schleier und was du zu tun hast, ist, den Schleier so auszudünnen, daß er durchsichtig wird. Der Weg, auf dem du das erreichen kannst, ist die nächtliche Konzentration auf das dritte Auge und dazu die Imagination der Farbe rot. Rot stimuliert das. Wenn du dich an deine Träume erinnern willst, wirst du das letztendlich auch erreichen. Aber ich bin dann nicht verantwortlich für das, woran du dich erinnerst!

Der folgende tabellarische Überblick gehört nicht mehr zu Nigel Hamiltons Vortrag und wurde von Ekkehard Ortmann eingefügt.

Stadium

Allegorie

Beschreibung

 

 

 

1. Stadium

Tal der Suche

Hinwendung nach innen + Beginn der Suche nach Gott bzw. dem Göttlichen

2. Stadium

Tal der Liebe

Bedingungslose und allumfassende Liebe, in der kein Wesen mehr ausgegrenzt wird

3. Stadium

Tal des Wissens

Selbsterkenntnis: die eingeprägten Muster im Denken, Fühlen + Verhalten erkennen und durchschauen

4. Stadium

Tal der Vernichtung

Auslöschung des mentalen Ich-Bewußtseins im mitfühlenden Gewahrsein und Leerwerden

5. Stadium

Tal der Einheit

Einssein: mit sich und allen anderen Wesen im Frieden + Verwirklichung des göttlichen Geistes in der physischen Welt

6. Stadium

Tal der Transzendenz

Dem im ewigen Jetzt gehaltenen Bewußtsein offenbart sich das Göttliche als Schwingung (Licht, Ton, Duft)

7. Stadium

Tal der Zufriedenheit

 

 

Transskription des Vortrags von Nigel Hamilton (siehe oben). Die Konsekutiv-Übersetzung wurde von Ekkehard Ortmann in einer Gemeinschafts-leistung von Hund und Eule – von treuem Durch-haltevermögen und scharfsichtiger Weisheit – ergänzt und gründlich überarbeitet. März / April 2024