Töten ist eine Gestalt unseres wandernden Trauerns (Rilke)

In seiner Reflexion über das Bedauern zitiert Bert Hellinger auch zwei Sätze von Rilke (aus dem zweiten Teil der Sonette an Orpheus):

Fern von dem Schauenden sei jeglicher Hauch des Bedauerns, …
Töten ist eine Gestalt unseres wandernden Trauerns …

Ger

Ger bzw. Wurfspieß

Diese Sätze haben es in sich – und wie so oft bei Rilke – erschließen sie sich erst, wenn klares Denken sich mit tiefgründigem Fühlen verbindet. Vielleicht kann diese Erläuterung zu einem vertieften Verständnis beitragen.

Zunächst möchte ich auf den zweiten Satz näher eingehen:

Töten ist eine Gestalt unseres wandernden Trauerns …

Untergründiges Trauern

Schon das Wort „unser“ in der Formulierung Rilkes deutet daraufhin, daß hier nicht vom persönlichen Trauern eines einzelnen Menschen die Rede ist, der irgendeinen Verlust erlitten hat. Vielmehr geht es um das existenzielle Trauern aller Menschen, also des Menschen schlechthin, der das Gefühl verloren hat, im Paradies – im Frieden einer heilen Welt – zu leben. Da jedoch die Sehnsucht nach dem Frieden und dem Einklang einer heilen Welt weiterhin in seinem Herzen lebendig ist, setzt mit dem Erleben des Verlustes ein tiefes untergründiges Trauern ein. Das Trauern gleicht dabei einem unterirdischen Fluß, der Denken und Fühlen immer wieder zwischen Ich und Du hin- und herwandern läßt, Das Du (sei es persönlich oder unpersönlich) steht dabei für das geliebte Objekt, das verloren gegangen ist. Dieses untergründige Trauern wird jedoch von den meisten Menschen gar nicht bemerkt, da ihre Aufmerksamkeit fast immer nach außen gerichtet ist. Nur jene spüren es, die bereit sind, in ihr Inneres einzutauchen und tief genug zu fühlen.

Der Blick zurück

Während Trauer das Gefühl meint, das mit einem Verlust einhergeht, meint Trauern den seelischen Prozeß der Verarbeitung des erlittenen Verlustes. Diese Verarbeitung ist stets erst dann vollendet, wenn alle mit dem Verlust in Zusammenhang stehenden Gefühle angenommen und durchlebt sind. Dann können wir auch innerlich endgültig loslassen, was wir äußerlich längst verloren haben. Beim Trauern ist der Blick immer auf den Teil des Lebensflusses gerichtet, der schon hinter uns liegt: wir schauen auf das, was vergangen und verloren ist. Alles, was in Raum und Zeit einmal bei uns war, müssen wir auch wieder loslassen und damit freigeben. Dadurch kommt nicht nur das geliebte Objekt frei, sondern auch wir werden wieder frei. Das Trauern kommt zum Ende.

Die Sehnsucht des Herzens

Die Sehnsucht des Herzens nach dem tiefen Frieden einer heilen Welt gehört jedoch zu dem, was wir nicht aufgeben und loslassen können, weil es zum Kern unseres Wesens gehört. Daher kann das untergründige Trauern über diesen tiefsten Verlust, von dem Rilke spricht, erst aufhören, wenn wir den ersehnten Frieden wieder gefunden haben. Solange wir jedoch bewußt oder unbewußt Frieden und Heil in der äußeren Welt suchen, also in Raum und Zeit, können wir sie nicht finden. Nur jenseits von Zeit und Raum im Innersten jedes einzelnen Menschen können Frieden und Heil gefunden werden. Dazu ist es unumgänglich, alles Greifbare und Begreifbare hinter uns zu lassen. Nur mit unserem Einverständnis ist das möglich und mit unserer Bereitschaft, alle Kontrolle aufzugeben, allem zuzustimmen, was das Leben uns beschert oder zukommen läßt – einschließlich Sterben und Tod.

Der Blick nach vorn

Die Kehrseite des Trauerns wird sofort deutlich, wenn wir den Blick auf den Teil des Lebensflusses richten, der vor uns liegt, wenn wir auf das schauen, was auf uns zukommt. Weil wir nicht wissen, was kommen wird, können wir sofort Unsicherheit und Angst fühlen – als Ausdruck unseres Mangels an Vertrauen dem Leben gegenüber. Uns im Bewußtsein des Nicht-Wissens und der eigenen Ohnmacht – also gewissermaßen blind – dem Fluß des Lebens anzuvertrauen, das trauen wir uns nicht. Stattdessen glauben wir, das Leben kontrollieren und nach unseren Vorstellungen lenken zu können. Krampfhaft halten wir fest an dem, was greifbar oder zumindest begreifbar ist: an Vorstellungen und Konzepten, an Überzeugungen, an vertrautem, altbekanntem Elend. Und das nur, weil es sich relativ sicher anfühlt, zumindest sicherer als das Unbekannte, als das Nicht-Wissen, sicherer, als uns dem Fluß des Lebens auf Gedeih und Verderb auszuliefern. Der Blick nach vorn weckt in uns den schlafenden Hund der Angst. Reflexartig greifen wir nach etwas, an dem wir uns festhalten können. Als Symbol für alles Greifbare gehört auch der physische Körper dazu, auch an ihm halten wir fest.

Etwas vom Untergründigen wird sichtbar

Das untergründige Trauern, das uns innerlich immer wieder zwischen Ich und Du hin- und herwandern läßt, zwischen dem, was wir zu sein glauben und dem, was uns verloren gegangen ist, hält die Erinnerung wach an unsere tiefste Sehnsucht, die Sehnsucht nach Frieden und heiler Welt. Es drängt uns dazu, alles Begrenzte aufzugeben und hinter uns zu lassen. Doch gleichzeitig ist da auch die Angst, die uns drängt, an Begrenztem festzuhalten.

Töten oder Getötetwerden erzwingt mit Gewalt, wozu wir freiwillig nicht den Mut finden. Die Lebenskraft, die jedem Lebewesen innewohnt, muß loslassen und kann sich nicht mehr am physischen Körper festhalten, der ja nur eine sterbliche Hülle ist, eben die äußere Erscheinungsform des Lebens. Somit finden im Töten gleichzeitig beide der zwei gegenläufigen Tendenzen eine Ausdrucksform, eine Gestalt:

Im Aufgeben des Begrenzten – wenn auch unfreiwillig und wenn auch in der Verschiebung auf ein anderes Individuum, dem die Opferrolle zugemutet wird – kommen das wandernde Trauern und die Sehnsucht des Herzens zum Ausdruck. In der erzwingenden Gewalt kommt die an Begrenztem festhaltende Angst zum Ausdruck.

Als sichtbare Ausdrucksform des zugrundeliegenden unbewußten Geschehens wird das Töten nun auch an der Oberfläche des menschlichen Bewußtseins bemerkt und ruft an der Oberfläche eine ganze Reihe von Reaktionen hervor auf den verschiedenen Ebenen von Verhalten, Fühlen, Denken und Urteilen.

Fern von dem Schauenden sei jeglicher Hauch des Bedauerns, ...

Schauen ist reines Gewahrsein dessen, was geschieht – ohne Wertung, ohne Urteil, ohne Partei zu ergreifen. Der mentale Geist ist auf das Greifbare ausgerichtet und daher zum Schauen nicht in der Lage. Wohl kann er sehen, beobachten und registrieren, aber Schauen kann er nicht. Wenn wir das Töten oder Getötetwerden sehen, sind wir sofort versucht, zu urteilen, das Gesehene zu unterteilen in Täter und Opfer, Partei zu ergreifen oder etwas zu rechtfertigen. Doch damit sind wir schon verstrickt im Beziehungsgeflecht der Welt, sind hineingeraten in den Strudel von Aktion und Reaktion und sind Teil der Spirale gegenseitiger Verurteilung, Schuldzuweisung und eskalierender Gewalt geworden.

Nur wenn wir Schauende sind und bleiben, bleiben unsere Herzen offen und frei. Dann können wir den Frieden und die Liebe, die wir im Innersten des Herzens vorfinden, nach außen in die Welt tragen.

Rein ist im heiteren Geist, was an uns selber geschieht.

Rainer Maria Rilke