Vater - das Bild des Mannes

Zum Identitätsproblem deutscher Männer vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus und zweier Weltkriege Überarbeiteter Vortrag aus dem Jahr 2005

Vorbemerkung

In diesem Vortrag will ich Ihre Aufmerksamkeit auf die seelische Dynamik lenken, die im Zusammenhang mit dem Bild des Mannes steht, dem Bild vom Männlichen, das in der Seele der Männer im Verborgenen wirkt. Diese seelische Dynamik kommt langsam und oft nur mühsam ans Licht des Bewußtseins. Das gilt vor dem Hintergrund der beiden Weltkriege und des Nationalsozialismus vor allem für uns Deutsche, für unser Volk, in abgeschwächtem Maße auch für die anderen europäischen Völker, für Amerikaner wahrscheinlich nur in geringem Maße. Vielleicht spüren Sie schon ein inneres Zögern oder einen leichten Vorbehalt, wenn ich von „unserem“ Volk rede. Sprechen wir von anderen Völkern, so fällt es uns leicht anzuerkennen, daß die aufgrund ihrer Abstammung, ihrer Geschichte und ihrer Landessprache jeweils zu diesem Volk gehörigen Menschen auf einer bestimmten Ebene ein Ganzes, eben ein Volk, bilden und daß an der Anerkennung dieser Tatsache nichts Anstößiges ist. Anders bei uns Deutschen. Da kommt uns schon die Formulierung, die uns als ein zusammengehöriges Ganzes beschreibt, irgendwie anstößig vor, als würden wir uns damit schon in die Nähe nationalsozialistischer oder neonazistischer Ideologie begeben. An der oft starken emotionalen Reaktion können wir bemerken, daß wir uns einem Thema zuwenden, das noch keineswegs bewältigt oder verarbeitet ist.

Seit meinen Kindertagen hat mich das Thema des heutigen Vortrags beschäftigt, auch wenn ich es als Kind natürlich so nicht hätte formulieren können. Wie jeder von uns habe ich verschiedene Erfahrungen gemacht, die mein Bild vom Männlichen, mein Mannesbild, beeinflußt und verändert haben: da spielen natürlich die eigenen persönlichen Erfahrungen als Kind eine Rolle, später dann auch die Erfahrung, die ich in der Begleitung von Klientinnen und Klienten sammeln durfte und schließlich die Lektüre und Auseinandersetzung mit den Erfahrungen und Gedanken anderer. In meinem Vortrag werde ich zunächst eine persönliche Begebenheit aus meiner Kindheit schildern, danach werde ich Thesen formulieren, die zum Verständnis dieser persönlichen Erfahrung beitragen können und die vielleicht auch Ihre Selbsterforschung befruchten oder vorantreiben können. Sodann werde ich diese Thesen erläutern und mit weiteren Überlegungen und Erfahrungsberichten vertiefen.

1. Jeder Mensch wird mit seiner Geburt in ein Energiefeld hineingeboren, das grundsätzlich durch die Polarität von „männlich“ und „weiblich“ beschrieben werden kann. Das Kind erlebt dieses Feld – durch seine Eltern verkörpert – in der Familie, im größeren Verwandtschaftsverband der Sippe, im nachbarschaftlichen Beziehungsgeflecht des Geburtsortes und in Form immer größerer Einheiten wie Region, Land, Volk, Kulturkreis usw..

Zu 1:

Zu einer Zeit, in der es die DDR noch nicht, die Bundesrepublik erst seit 2 Monaten gab, bin ich in der sowjetisch besetzten Zone geboren worden Vier Jahre nach Kriegsende gab es in Deutschland auf materieller Ebene überall noch die zerstörten Städte und Schuttberge, vielerorts auch noch den Hunger, auf der seelisch-geistigen Ebene viele tiefgreifende unverarbeitete Erfahrungen: die Erfahrung tiefer Enttäuschung, die die unvermeidliche Folge der vorangegangenen Täuschung war, einer Täuschung, der sich Tausende hingegeben hatten, die Hitler als Führerfigur wie einen nationalen Erlöser und Retter angehimmelt hatten. Es gab die Erfahrung einer von vornherein auf Krieg ausgerichteten, die ganze Gesellschaft durch und durch organisierenden Diktatur mit einer Ideologie der Hybris, die Erfahrung des kollektiven Sturzes in den Abgrund der totalen Niederlage und nie dagewesener Zerstörung in einem totalen Krieg, die Erfahrung der Besatzung durch die Siegermächte, der individuellen Rechtlosigkeit und Ohnmacht vor Ausbruch des Krieges und auch nach seinem Ende, die beginnende Konfrontation mit der eigenen Verantwortung und Schuld. Und es gab Hoffnung auf einen Neubeginn in größerer Freiheit.

In dieses Energie-Feld bin ich damals hineingeboren worden. Meine Mutter hatte schon während des Krieges ihre Heimat Siebenbürgen verlassen und war 1943 in das Land und in das Haus ihres Mannes und seiner Familie gezogen. Mein Vater war Sohn eines evangelischen Pfarrers, der einzige von 5 Söhnen, der den Krieg überlebt hatte. Mit seinem christlich geprägten Hintergrund engagierte sich mein Vater schon bald nach Kriegsende in politischer Aktivität. Im Oktober 1951 vom Staatssicherheitsdienst der DDR verhaftet und zu Spitzeldiensten erpreßt, flüchtete er nach Westdeutschland. Ca. ½ Jahr später folgten ihm auch meine Mutter mit meinem älteren Bruder und mir nach. Die Zeit vom Sommer 1954 bis zum Sommer 1955 verbrachte ich wieder in meinem Geburtsort in der inzwischen gegründeten DDR. Dort lebte ich als 5-jähriger kleiner Junge ein ganzes Jahr bei meiner Großmutter in meinem Geburtshaus, weil meine Mutter sich damals überfordert und überlastet fühlte. Während dieser Zeit hielt der 5-jährige Junge, der ich damals war, im einzigen Lebensmittelladen des Dorfes inhaltlich variierende kleine Ansprachen, die jeweils in dem Ausruf gipfelten: „Die Schweine-Russen sollen unser Land verlassen !“ Was bringt einen 5-jährigen kleinen Jungen dazu, solche Reden zu führen, die in seinem Umfeld ohne Vorbild sind? Mit wem ist er unbewußt identifiziert ? Wie kommt er dazu, die Russen als „Schweine-Russen“ zu bezeichnen und damit ein ganzes Volk zu beleidigen, obwohl er noch keinem einzigen Russen begegnet war?

Die Familienaufstellungen nach der von Bert Hellinger entwickelten Methode zeigen, daß Menschen durch die unbewußt wirkenden Bindungskräfte innerhalb des Familienverbands mit den Schicksalen früherer Familienmitglieder vielfach verstrickt sind. Die Generationen übergreifende Dynamik innerhalb des Familienverbands kann nur verstanden und durchschaut werden, wenn man die Perspektive des einzelnen Individuums aufgibt zugunsten einer Perspektive, die den Familienverband als ein größeres Ganzes im Auge hat. Dieses größere Ganze kann als Familienseele oder Gruppenseele bezeichnet werden. Die Familienseele oder Gruppenseele ist von einer eigenen Ordnung bestimmt und besitzt einen eigenen Gleichgewichtssinn, der Störungen dieser Ordnung auszugleichen sucht.

„Wir Menschen sind das, was Arthur Koestler ein 'Holon' nennt. Ein Holon ist auf der einen Seite ein Ganzes und auf der anderen Seite Teil von etwas anderem. So ist ein Atom ein Teil von einem Molekül. Ein Molekül ist ein Teil einer ganzen Zelle, und die Zelle ist ein Teil eines ganzen Organismus. Nichts ist auschließlich ein Teil oder ausschließlich ein Ganzes. Ein Holon ist wie die Masche eines Netzes. Eine Masche ist eine Einheit, aber sie kann allein nicht existieren. Sie kann nur mit anderen zusammen existieren.“ (Willigis Jäger, In jedem Jetzt ist Ewigkeit, Kösel Verlag 2003, S.88)

Die Familie ist in diesem Sinne ein „Holon“, das das Kind als einen Teil umfaßt, und sie selber ist wiederum Teil eines größeren Ganzen, der Sippe oder des Familienverbands. Die Sippe als „Holon“ ist Teil eines Volksstammes und dieser wiederum Teil eines ganzen Volkes.

Anscheinend hat der kleine 5-jährige Junge das in seinem Umfeld vorherrschende Feindbild übernommen vom primitiven, rohen und potentiell gewalttätigen Russen, der als rücksichtsloser Eroberer und unbarmherziger Besatzer das Heimat-Land des Jungen unterworfen hat. Er spricht aus, was die Menschen in seiner Umgebung denken, aber nicht auszusprechen wagen. Jedoch spricht aus dem Jungen auch die Liebe zum eigenen Land und die Bereitschaft, sich kämpferisch für dessen Wohl und Freiheit einzusetzen, eine Haltung, für die er in seinem unmittelbaren Umfeld kein Vorbild sehen kann, die aber vermutlich viele der gefallenen Soldaten beseelt hat und die dadurch im Energiefeld noch anwesend ist.

2. Jeder Mann hat teil an einer kollektiven Gruppenseele der Männer (Männerseele). Die Männerseele enthält in ihrem Kern ein Inbild des Männlichen.

Zu 2:

Energie wird spürbar und kann bewußt erfahren werden in der Polarität zwischen einem männlichen und einem weiblichen Pol. Das Schwert ist seit altersher Symbol für die männliche Energie: Grenzen setzen, Abgrenzen und Hinauswerfen, Trennen, Entscheiden, Unterscheiden, Eindringen, Vordringen. Das Gefäß, die Schale ist ein Symbol für die Energie in ihrer weiblichen Erscheinungsform: Empfangen, Aufnehmen, Umschließen, Pflegen, Nähren, Bergen und Gebären.

Die kämpferischen Ansprachen des 5-jährigen kleinen Jungen sind gleichermaßen Ausdruck von männlicher und weiblicher Energie: Die kindliche Seele hat etwas aus dem umgebenden größeren Energiefeld in sich aufgenommen (der weibliche Aspekt), in der kämpferisch gehaltenen Rede kommen Urteil und Grenzen zum Ausdruck und die Bereitschaft, für diese Grenzen einzutreten (der männliche Aspekt). Es sei hier angemerkt, daß in jedem Urteil eine ursprüngliche Einheit, ein Ganzes, im Bewußtsein geteilt wird in „gut“ und „böse“ oder in „richtig“ und „falsch“, in diesem Sinn also jedes Urteil den Geist aufspaltet.

Dem Unterschied zwischen Mann und Frau entspricht die Gemeinsamkeit aller Männer und die Gemeinsamkeit aller Frauen. Insoweit diese Gemeinsamkeit in der Seele erfahren werden kann, kann man von einer größeren – alle Männer umfassenden – Männerseele und einer größeren – alle Frauen umfassenden – Frauenseele sprechen. Die noch weitgehend offene Kinder-Seele ist empfänglich für alle im Energiefeld vorhandenen Spuren vorausgegangener Erfahrungen, sie hat daher noch ungehinderten Zugang zu all jenen Gefühlen und Impulsen, denen gegenüber sich das Ich des erwachsenen Menschen verschlossen hat. Das Kind nimmt also das Unbewältigte und Verdrängte aus der Seele der Eltern in seine Kinderseele auf.

Die Kinderseele eines Jungen ist frühzeitig mit dem eigenen Geschlecht identifiziert und daher im allgemeinen für die Erfahrungen des Vaters und der Vorväter in hohem Maße offen und empfänglich. Indem sich der Junge mit dem männlichen Geschlecht identifiziert, erfährt er sich als eingebettet in die Männerseele als einem Holon höherer Ebene. In der Aufstellung meiner Herkunftsfamilie habe ich zum ersten Mal auf einer bewußten Ebene erfahren, welche Kraft und Wucht von den 4 Brüdern meines Vaters ausgeht, die im Krieg ihr Leben verloren haben. Die Männer, die in der Aufstellung als Stellvertreter dieser Brüder mitwirkten, sprachen übereinstimmend davon, daß sie sich aufrecht, geradlinig, kraftvoll und im vollen Sinne als Mann gefühlt haben.

Sich voll und ganz einzusetzen, einschließlich der Bereitschaft, das eigene Leben dabei zu verlieren, gehört offenbar zum archaischen Bild des Mannes, das in einer tief empfundenen seelischen Ebene gründet. Dieses Bild möchte ich als Inbild des Männlichen bezeichnen, da es nicht von außen übernommen ist, sondern der Männerseele innewohnt, so wie in der Eichel schon das Bild der großen Eiche schlummert und auf seine Verwirklichung wartet. Obwohl jeder Baum einmalig ist und anders aussieht als jedes andere Exemplar seiner Art, wird aus der Eichel doch immer nur eine Eiche, niemals ein anderer Baum. Auch in der Männerseele gibt es etwas, was variiert und in jedem Individuum einen einmaligen Ausdruck findet, und es gibt ein Gemeinsames, das allen Männern eigen ist, und die Männerseele von der Frauenseele unterscheidet.

Zu diesem Inbild des Männlichen möchte ich ein Gleichnis aus dem Thomas-Evangelium zitieren und erläutern. In dem Zitat werden der weibliche und der männliche Aspekt in zwei verschiedenen Gleichnissen beschrieben, die jedoch ein zusammengehöriges Ganzes bilden und die ich deshalb auch beide wiedergebe, auch wenn ich hier auf den weiblichen Aspekt nicht weiter eingehen werde.

„97. Jesus sprach: Das Reich des Vaters gleicht einer Frau, die einen Krug voll Mehl trug. Während sie einen weiten Weg machte, brach der Henkel des Kruges ab, so daß eine kleine Öffnung entstand. Das Mehl lief aus hinter ihr auf dem Weg. Sie merkte es nicht, sie wußte nicht, wie man sich bei der Arbeit verhält. Aber als sie in ihr Haus kam, stellte sie den Krug nieder und fand ihn leer.

98. Jesus sprach: Das Reich des Vaters gleicht einem Menschen (Mann), der einen mächtigen Mann töten wollte. Er zog das Schwert in seinem Hause und stieß es in die Wand, um zu erkennen, ob seine Hand stark genug wäre. Dann tötete er den Mächtigen.“

(Das Evangelium nach Thomas, zitiert nach: Apokryphe Evangelien aus Nag Hammadi, Dingfelder Verlag 1988, S. 216)

Es gibt in der Tradition des Zen eine entsprechende Geschichte von einem Meister der Meditation, der auch den Umgang mit dem Schwert beherrscht. Dieser Meister schreitet langsam und würdevoll auf einem von dichten Büschen umfaßten Weg im königlichen Schloßpark, während er in einem Gedichteband liest und die Gedichte im Geiste rezitiert. An der nächsten Wegkreuzung, hinter einem Busch versteckt, lauert ihm ein Mörder auf, bewaffnet mit einem Dolch und bereit, den Meister zu töten. Beim letzten Schritt auf diese Wegkreuzung zu schließt der Meister seinen Gedichteband, nachdem er ein Lesezeichen eingelegt hat, verstaut das Buch in der Tasche seines Umhangs, zieht sein Schwert aus der Scheide und enthauptet mit einem präzisen Hieb den jäh auf ihn zu stürzenden Mörder. Ohne sein langsames Vorwärtsschreiten zu unterbrechen, entfernt er die Blutspuren von seinem Schwert, steckt es wieder in die Scheide, holt sein Buch hervor und setzt die Rezitation des Gedichtes fort.

In beiden Gleichnissen geht es um die männliche Energie in der Erscheinungsform des Kriegers, der auf der höchsten Ebene weder von aggressiven Gefühlen und Impulsen begleitet noch geleitet ist, sondern frei und ungetrübt vom Ego, vom Ich-Bewußtsein, vollkommene Klarheit wie in einem Spiegel zum Ausdruck bringt: der Angreifer wird mit der Energie konfrontiert, die von ihm selbst ausgeht, und damit werden auch alle seine Grenzen wie in einem Spiegel reflektiert. In der Tradition des tibetischen Buddhismus heißt es, „das mächtigste aller Schwerter ist das Schwert der mitfühlenden Barmherzigkeit.“ Damit ist die höchste Ebene der Entwicklung und des Ausdrucks der männlichen Energie des Kriegers gekennzeichnet. Bis zu dieser höchsten Ebene führt nur eine lange Evolution, in der die kriegerische Energie in ihrem Ausdruck eine Stufenfolge niederer Ebenen durchschreitet.

Der Archetyp des Kriegers ist ein Aspekt des Inbildes vom Männlichen. Insoweit er diesen Aspekt zum Ausdruck bringt, steht er im Dienste der Ganzheit, Seine Handlungskraft und seine Führung bezieht er aus dem tiefsten Seelengrund, dem Bereich innerer Stille und Leere. Sobald ihm allerdings dieser Bezug zur Quelle des Lebens verloren geht – auch wenn es nur für einen Moment ist – wird das Handeln des Kriegers unrein, es dient in dem Fall nur noch einem abgegrenzten Teil, dem Ego oder Ich-Bewußtsein. Der Bezug zum Holon der höheren Ebenen ist unterbrochen.

In der Bhagavad Gita, einem religiösen Text aus der indischen Tradition, gibt es eine Erzählung über Arjuna, der sich in einer Situation vorfindet, in der er an einer Schlacht teilzunehmen aufgefordert ist. Er wendet sich im Gebet an Krishna (Gott), da er nicht weiß, wie er sich verhalten soll, um nicht Schuld und belastendes Karma auf sich zu laden. Von Krishna kommt eine ausführliche Antwort, die hier nur sinngemäß und verkürzt wiedergegeben sei: Kämpfe, aber kämpfe gelassen! (Bhagavad Gita, aus dem Sanskrit übersetzt von Michael von Brück, mit einem spirituellen kommentar von Bede Griffiths, Kösel Verlag 2004, S. 33 – 69)

Das ist gewissermaßen die Quadratur des Kreises, die Vereinigung der Gegensätze von vollem Einsatz im Kampf (männlicher Aspekt) und Gelassenheit, also nicht-eingreifendem Geschehenlassen (weiblicher Aspekt), die nur dann gelingen kann, wenn der Krieger vom Ganzen und Einen geleitet ist, also die Offenheit zum Holon aller höheren Ebenen bewahrt, weil er sich bewußt ist, was er wirklich – das heißt im Innersten – will.

3. Die traumatisierenden Erfahrungen des ersten und zweiten Weltkrieges haben in der Seele von Männern zu Aversion und Selbstbetäubung geführt. Aversion und Selbstbetäubung dienen der Abwehr von Scham, überwältigendem Schmerz und abgrundtiefer Trauer.

Zu 3:

Bei der Lektüre des Buches „Eine Frau in Berlin“, den Tagebuch-Aufzeichnungen einer Frau in der Zeit vom 20. April bis 22. Juni 1945, bin ich auf viele Stellen gestoßen, die mich sehr berührt haben und die – wie ich glaube – Symbolwert haben, zwei davon möchte ich deshalb hier zitieren. Das erste Zitat bezieht sich auf Soldaten der Wehrmacht, die von der Front zurückgekehrt durch einen Bezirk Berlins marschieren bzw. trotten.

Sonntag, 22. April 1945

„All diese Gestalten sind so armselig, so gar keine Männer mehr. Man kann sie nur bemitleiden. Man erhofft oder erwartet auch gar nichts mehr von ihnen. Schon jetzt wirken sie geschlagen und gefangen. An uns, die wir am Bordstein stehen, schauen sie stumpf und blicklos vorbei. Offenbar sind wir, wir Volk oder Zivilisten oder Berliner oder was wir sind, ihnen gleichgültig, ja lästig. Daß sie sich ihrer äußeren Herabgekommenheit schämen, glaub ich nicht. Die sind zu stumpf und müde dazu. Abgekämpft. Ich mag gar nicht mehr hinsehen.“ (S. 27)

Donnerstag, 26. April 1945

„Immer wieder bemerke ich in diesen Tagen, daß sich mein Gefühl, das Gefühl aller Frauen den Männern gegenüber ändert. Sie tun uns leid, erscheinen uns so kümmerlich und kraftlos. Das schwächliche Geschlecht. Eine Art von Kollektiv-Enttäuschung bereitet sich unter der Oberfläche bei den Frauen vor. Die männerbeherrschte, den starken Mann verherrlichende Naziwelt wankt – und mit ihr der Mythos 'Mann'. In früheren Kriegen konnten die Männer darauf pochen, daß ihnen das Privileg des Tötens und Getötetwerdens fürs Vaterland zustand. Heute haben wir Frauen daran teil. Das formt uns um, macht uns krötig. Am Ende dieses Krieges steht neben vielen anderen Niederlagen auch die Niederlage der Männer als Geschlecht.“ (S. 51/52)

Hitler und die Nazi-Ideologie haben den Archetyp des Kriegers, der zwar ein wesentlicher, aber eben nur ein Aspekt des Inbildes vom Männlichen ist, von den anderen Aspekten (Vater, König, Liebhaber/Geliebter, Magier, Künstler) und vor allem von dem Bezug zum Holon der höheren Ebenen auf der Ebene des Vaterlandes abgetrennt, verabsolutiert und für politische Ziele mißbraucht. Damit ist das Scheitern des Kriegers unausweichlich, denn er steht nicht mehr im Dienst des Ganzen.

„Die männerbeherrschte, den starken Mann verherrlichende Naziwelt wankt – und mit ihr der Mythos 'Mann'.“

Wie ist Hitler dazu gekommen ?

Hitler hat nicht nur eine schlimme Kindheit mit viel Entbehrung und Gewalt erlebt, sondern er ist auch von den Erfahrungen des ersten Weltkriegs geprägt. Wie so viele der im ersten Weltkrieg heimkehrenden Frontsoldaten war Hitler erblindet. Der ihn behandelnde kaiserliche Marine-Psychiater Prof. Dr. Edmund Forster erkannte in Hitlers Erblindung eine psychogene Kriegsneurose, die er mit den damals üblichen Methoden der Schocktherapie behandelte: Die Symptome des Patienten wurden als unbedeutend gegenüber den großen Leiden anderer dargestellt, mittels Wachsuggestionen wurde den Betroffenen vermittelt, besondere Menschen könnten sich durch Willenskraft heilen, Anschreien wechselte mit beschwörenden Gesprächen, auch Elektroschocks und kalte Duschen fanden Anwendung. (FAZ vom 9.6.2004, S.11)

Mit 'Erfolg', der Patient Hitler gewann seine Sehkraft zurück.

Vom tiefenpsychologischen Gesichtspunkt aus betrachtet, deutet diese Geschichte daraufhin, daß ihm – wie vielen anderen auch – die innere Kraft fehlte, der im ersten Weltkrieg erlebten Gewalt, der Zerstörung, dem Elend und allem, was sonst noch damit einherging, ins Auge zu schauen. Die Erblindung drückt etwas Unbewußtes aus, das in der Seele wirkt: „Ich kann und will da nicht mehr hinschauen, es ist zuviel, ich bin dem nicht gewachsen.“ Die Behandlung durch den Marine-Psychiater hat erfolgreich das Symptom, also die Erblindung, beseitigt. Die innere Kraft der Person Adolf Hitlers hat in dieser Therapie sicherlich keine Stärkung erfahren. Vielmehr wurden Hitlers psychische Abwehrmechanismen perfektioniert und damit wurde der innere Kern seiner Person noch schwerer zugänglich. Der entscheidende gemeinsame Nenner aller psychischen Abwehrmechanismen ist die Einschränkung des Fühlens, nicht bestimmter Gefühle, sondern der Fühlfähigkeit, der Fähigkeit zum Mitgefühl mit anderen und mit sich selbst.

Auch später als „Führer des Großdeutschen Reiches“ konnte und wollte Hitler bei seinen Bahnfahrten durch zerbombte Städte nicht hinschauen, er ließ die Vorhänge seines Abteils zuziehen.

Zwar ist der Begriff des Traumas (griechisch: die Wunde) in der Psychologie schon länger bekannt, doch erst seit dem Ende des Vietnam-Kriegs werden die Kriegserlebnisse auch von der wissenschaftlichen Forschung als schwer traumatisierend zur Kenntnis genommen. Der traumatisierte Mensch tut unbewußt alles, um die seelische und körperliche Wunde nicht zu spüren und aus dem Bewußtsein vollständig zu verbannen, während er im äußeren Leben weiterhin relativ gut funktioniert.

In neuerer Zeit hat Prof. Dr. Michael Ermann (Professor der Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität München) in einem im Rundfunk gehaltenen Vortrag die Generationen übergreifende Traumatisierung beschrieben, die im Erleben von Fliegerangriffen und Bombardierung, von brennenden Städten, einstürzenden Häusern, von getöteten und verstümmelten Kameraden, Feinden oder Angehörigen, von Flucht- und Vertreibung ihren seelischen Grund findet.

4. Die Aversion gegenüber dem alten Mannesbild ist als Phase (von historischem Ausmaß) in einem Prozeß der seelischen Verarbeitung zu verstehen. Im Kern ist sie eine Abwendung vom Vater und kommt einer Entwurzelung gleich, wenn der Prozeß der Verarbeitung nicht darüber hinaus geht.

Zu 4:

Aversion bedeutet eine gefühlsmäßige Ablehnung, die zur Abwendung führt und so dafür sorgt, daß viele Menschen in unserem Land, Männer wie Frauen, die jüngste deutsche Vergangenheit – unsere gemeinsame Vergangenheit als Volk – verurteilen, aber nicht anschauen. Heute reagieren die meisten von uns auf die Ideale unserer Väter und Vorväter mit einer solchen Aversion (bitte achten Sie als Leser auf Ihre innere emotionale Reaktion beim Lesen !):

Ehre, Liebe zum Vaterland, Heldenmut, Opferbereitschaft, Fleiß, Pflichterfüllung, Eintracht, Treue.

Einzig die Ideale von Willenskraft und Freiheit sind für uns einigermaßen unbeschadet geblieben. Diese innere Abkehr von den Idealen unserer Väter und Vorväter ist zunächst undifferenziert geschehen, die Aversion unterscheidet nicht zwischen den in Verruf geratenen Idealen und jenen Männern, die an sie geglaubt haben oder von ihnen beseelt waren. Im Unbewußten wirkt stets eine tiefe Bindungsliebe zwischen Vater und Sohn, auf der bewußten Ebene wird sie jedoch durch die gefühlsmäßige Verurteilung gebrochen und verneint. Verurteilung verweigert das mitfühlende Hinschauen und unterbricht damit den Fluß der Liebe und damit auch der Lebensenergie zwischen Vater und Sohn oder engt ihn doch stark ein. So fühlen sich viele von uns nicht mehr verwurzelt in der Kette männlicher Ahnen und in der eigenen Kultur und Geschichte.

Der Prozeß der seelischen Verarbeitung ist in vielerlei Hinsicht dem Verdauungsprozeß ähnlich: Kauen und Wiederkäuen, das Ungenießbare oder Giftige nicht schlucken, sondern ausspucken oder – falls es schon geschluckt ist – sich damit übergeben. Und schließlich der eigentliche Verdauungsvorgang, der im Innern und im Dunkel stattfindet: Das, was dem Leben förderlich ist, wird im Unbewußten einverleibt, das Andere wird schließlich als Abfall ausgeschieden. Die Darmwand weist von allen Organen des Menschen die größte Oberfläche auf. Verdauung geschieht also dort, wo wir uns – auch im Seelischen – dem zu Verdauenden mit der größtmöglichen Oberfläche aussetzen. Die Schablone von Gut und Böse ist für die seelische Verdauung ebenso untauglich wie die stereotype Aufteilung in Täter und Opfer. Im Hinschauen auf die Ereignisse von Auschwitz, Guernica oder Dresden erfahren wir immer die gleiche tiefe Erschütterung, die nicht mehr unterscheidet zwischen gut und böse oder Täter und Opfer. Erst wenn im Erleben und der persönlichen Erfahrung diese seelische Tiefe erreicht ist, können solche Ereignisse verdaut werden.

5. Die seelische Verarbeitung der in der Männerseele oft tief vergrabenen Traumata ist eine Generationen übergreifende Aufgabe.

Zu 5:

In Homers Erzählung über den trojanischen Krieg wechseln sich immer wieder zwei Ebenen ab, auf denen die wechselvollen Ereignisse geschildert werden: die Ebene der Menschen und die Ebene der Götter. Damit ist auf symbolische Weise erfaßt und ausgedrückt, daß in einem Kriegsverlauf Kräfte wirken, die weit über das hinausgehen, was menschliche Kontrolle, Planung und Vernunft erfassen oder im Griff haben können. Solche Kräfte, die das Schicksal ganzer Völker beeinflussen, sind zu groß, als daß ihre Spuren in einer Generation getilgt werden könnten.

Im alten Testament finden sich bei Mose gleich mehrere Stellen, die die Generationen übergreifende Wirkung von Handlungen betonen (im 2., 4. und 5. Buch, z.B. 2.Mose 34,7):

„... der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft läßt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied!“

Die Generationen, die den ersten und zweiten Weltkrieg am eigenen Leib erfahren haben, waren bis auf wenige Ausnahmen kaum in der Lage, die traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten. Abwehrmechanismen wie Verdrängung, Verleugnung, Abspaltung waren die üblichen Notlösungen. In der therapeutischen Arbeit mit den nach 1945 geborenen sogenannten Nachkriegskindern habe ich immer wieder erlebt, wie Klienten oder Klientinnen seit ihrer Kindheit Gefühle in sich tragen, die mit den nicht verarbeiteten Kriegserlebnissen ihrer Eltern oder Großeltern in Zusammenhang stehen. Zwar können die erwachsen gewordenen Kinder viele unverarbeitete persönliche Erfahrungen, die sie von den Eltern übernommen und für sie getragen haben, diesen wieder in derselben Liebe zurückgeben, in der sie sie als Kind auf sich genommen haben. Doch für die Kollektiverfahrungen größerer Systeme scheint das nur in sehr geringem Maße möglich zu sein. Diese größeren Systeme nehmen die Kinder und Kindeskinder gewissermaßen in die Pflicht, an der Verarbeitung mitzuwirken.

6. Was Leitbilder und Männlichkeitsideale angeht, so hat die Ablehnung des alten Mannesbildes in der Nachriegszeit zu einem Vakuum geführt, das durch importierte Männlichkeitsklischees aufgefüllt wurde. Doch geht es nicht um Auswechselung und Ersatz, sondern um Verwandlung: Überwindung der Fremdbestimmung in der Seele durch Selbstbestimmung.

Zu 6:

Der Berliner Psychoanalytiker Horst Petri (Horst Petri, geboren 1936, ist Arzt für Neurologie und Psychiatrie sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie. Er lehrt Psychotherapie und Psychosomatik an der FU Berlin und ist Psychoanalytiker in eigener Praxis) bezieht sich kritisch auf das berühmte Buch von Alexander Mitscherlich, 'Auf dem Weg in die vaterlose Gesellschaft': „Mitscherlich klammerte die reale Vaterlosigkeit in seiner sozialpsychologischen Analyse ausdrücklich aus und leitete die "Unsichtbarkeit" der Väter allein von den industriellen Arbeitsbedingungen ab. Die Ausblendung der Realität datierte aus einer Zeit, in der der millionenfache Vaterverlust der beiden Weltkriege noch als klaffende Wunde durch die Bevölkerung ging. Sie war offenbar so schmerzhaft, daß es zu einer kollektiven Verdrängung des Themas kam, das bis in die jüngste Zeit weder wissenschaftlich noch in der Öffentlichkeit aufgearbeitet wurde.“

In seiner Analyse von 1963 erkannte Mitscherlich allerdings, daß die Deutschen die Autorität Hitlers und der nationalsozialistischen Symbole (Hakenkreuz, SA- und SS-Uniformen usw.) einfach durch die Autorität der Aliierten und vor allem durch den Amerika-Mythos und seine Symbole (Freiheitsstatue, Sternenbanner, usw.) ersetzt hatten. Der Mangel an vorgelebter Männlichkeit durch den Vater und die Vorväter wurde kompensiert durch die Medien (zuerst Zeitschriften und Rundfunk, dann auch Fernsehen, Schallplatten und Kinofilme), die die millionenfache Wiedergabe der Leitbilder und Männlichkeitsideale aus der sogenannten Neuen Welt ermöglichten. Die Neue Welt ist eine schon im 16. Jahrhundert entstandene Bezeichnung für Amerika. So war die amerikanische Kultur in der 1949 neu entstandenen Bundesrepublik Deutschland von Anfang an die Leitkultur. In der ebenfalls 1949 gegründeten DDR ist zwischen der offiziellen russisch orientierten Leitkultur und einer inoffiziellen Leitkultur zu unterscheiden, an der sich die große Mehrheit der Menschen tatsächlich orientierte und die aus dem „Goldenen Westen“ (Bundesrepublik) übernommen wurde. Mithin schauten beide Teile Deutschlands auf ihrer Suche nach Orientierung und Vorbild gewissermaßen nach Westen, in der Bundesrepublik war es der ferne Westen, der durch die amerikanischen Besatzer ganz nah herangekommen war, in der DDR war es der Westteil Deutschlands, die Bundesrepublik. Und auch das vereinigte Deutschland schaut bis heute auf Amerika (USA) wie auf einen großen Bruder.

Biedere deutsche Bürger pflegen in ihrer Freizeit die Tradition des Wilden Westens in Western-Clubs; im öffentlichen Raum Deutschlands hat sich die Vorherrschaft der englischen Sprache inzwischen fest etabliert; im veröffentlichten Sprachgebrauch werden in allen gesellschaftlichen Bereichen Wörter aus der deutschen Sprache durch englische ersetzt oder Neubildungen aus einer Vermischung beider Sprachen („Denglisch“) gebildet; und selbst in deutschen Traditionsunternehmen (wie z.B. Deutsche Bank, Siemens) wird auf der Führungsebene mit vordergründigen Argumenten die vollständige Auswechselung der deutschen durch die englische Sprache betrieben. Diese Phänomene sind nicht nur als Versuche zu verstehen, einen Ersatz für die unterbrochene oder verloren gegangene Verwurzelung in der eigenen Herkunft zu finden, sondern sie stellen auch eine grundlegende Verwechslung dar: die Verwandlung einer Geisteshaltung wird mit der Auswechselung ihrer Ausdrucksformen verwechselt.

7. Seelische Entwicklung und Reifung des Mannes vollziehen sich im Spannungsfeld zwischen Vorbild und Inbild.

Zu 7:

Mit Vorbild meine ich hier das von Erwachsenen vorgelebte und vom Kind erlebte Vorbild, also in unserem Zusammenhang das, was der heranwachsende Junge im Umgang mit seinem Vater, mit den Großvätern, den Onkeln, den Lehrern und anderen erwachsenen Männern erlebt. Vorbild in diesem Sinne meint also etwas anderes als die Idole oder Leitbilder, die von den „bewußtseinsbildenden“ Medien propagiert werden. Das Vorbild in diesem Sinne besitzt die „normative Macht des Faktischen“, die allemal stärker und tiefer wirkt als die von den Medien erzeugte Scheinwelt. Das So-Sein der Erwachsenen teilt sich mit in ihrer Ausstrahlung und hinterläßt im Energiefeld Spuren, die die offene Kinderseele aufnimmt, selbst wenn sie zeitlich und räumlich vom Erwachsenen getrennt ist.

Die im Inbild des Männlichen keimhaft vorhandene Energie ist nur in ihrer Grundstruktur festgelegt und kann daher in verschiedenen Gestalten, Formen oder Mustern zum Ausdruck kommen. Wie beim elektrischen Strom, der eine Glühbirne zum Leuchten bringen, einen Rasenmäher antreiben oder einem Menschen einen tödlichen Schlag versetzen kann, kann sich die männliche Energie in aufbauender oder zerstörerischer Weise manifestieren. Ist es den im Umfeld anwesenden Vorbildern nicht gelungen, eine Offenheit zum Holon aller höheren Ebenen zu bewahren oder eine entsprechende Öffnung zu erreichen, so erfährt das Kind den Konflikt im eigenen Innern: die auf konkrete Verwirklichung drängende männliche Energie stößt sich an den unzureichenden Verwirklichungsmustern der Vorbilder.

Erinnern wir uns noch einmal an den 5-jährigen kleinen Jungen, dessen kleine Ansprachen in dem Ausspruch gipfelten: „Die Schweine-Russen sollen unser Land verlassen !“ Er will wie ein Mann für sein Land einstehen und sich für das Wohl und die Freiheit des Landes seines Vaters und seiner Vorväter, des Vaterlandes, kämpferisch einsetzen. Doch die Vorbilder in seinem Umfeld verhalten sich eher passiv und opportunistisch, sie beugen sich den gegebenen Machtverhältnissen. Der Junge erlebt sie so, als wären sie stärker von der äußeren Situation bestimmt als von ihrer inneren Kraftquelle. Für eine Integration von innerer Kraft und angemessenem Verhalten in der jeweiligen Situation sind keine Vorbilder da. Der Junge ist in dieser Hinsicht allein und hilflos. So wird diese Integrationsleistung für den Jungen zu einer Lebensaufgabe, die sich wie ein roter Faden durch sein weiteres Leben zieht.

In dem 1957 erschienenen Buch „Die skeptische Generation“ hat der Soziologe Helmut Schelsky auch das Phänomen der sogenannten Halbstarken in der ersten Nachkriegsgeneration untersucht; er zitiert einen von einem männlichen Jugendlichen, eben einem „Halbstarken“, verfaßten Text, der das Lebensgefühl dieser Generation beispielhaft in Worte faßt:

„Ihr habt uns keinen Weg gewiesen, der Sinn hat, weil ihr selber den Weg nicht kennt und versäumt habt, ihn zu suchen. Weil ihr schwach seid. Euer brüchiges »Nein« stand windschief vor den verbotenen Dingen. Und wir brauchten nur etwas zu schreien; dann nahmt ihr das »Nein« weg und sagtet »Ja«. Um eure schwachen Nerven zu schonen. Und das nanntet ihr »Liebe«. Weil ihr schwach seid, habt ihr euch von uns Ruhe erkauft. Solange wir klein waren, mit Kinogeld und Eis. Nicht uns habt ihr damit gedient, sondern euch und eurer Bequemlichkeit. Weil ihr schwach seid. Schwach in der Liebe; schwach in der Geduld, schwach in der Hoffnung, schwach im Glauben. Wir sind halb-stark, und unsere Seelen sind halb so alt wie wir. Und wir machen Radau, weil wir nicht weinen wollen - nach all den Dingen, die ihr uns nicht gelehrt habt. Zeigt uns für jeden von uns, der Lärm macht, einen von euch, der im Stillen gut ist. Laßt, anstatt mit Gummiknüppeln zu drohen, Männer auf uns los, die zeigen, wo der Weg ist. Nicht mit Worten, sondern mit ihrem Leben. Aber ihr seid schwach. Die Starken gehen in den Urwald und machen Neger gesund. Weil sie euch verachten. Wie wir. Denn ihr seid schwach; und wir sind halb-stark. Mutter, versuch zu beten, denn die Schwächlinge haben Pistolen.“

8. Nicht die Aversion (Abwendung) sondern die mitfühlende Zuwendung der Söhne und Enkelsöhne dem Schicksal der Väter und Vorväter gegenüber ermöglichen Heilung und Erneuerung in der Männerseele.

Zu 8:

Hunter Beaumont berichtet in seinem Vortrag „Die Erlösung der Väter“ von einem Klienten, der an einer Paargruppe teilnahm. Dieser Klient verachtete seinen Vater als Schwächling. Nach einer sehr einfühlsamen Vorbereitung bietet der Therapeut dem Klienten einen Satz als Experiment an: „'Ich bin froh, daß ich nicht erleben mußte, was du erlebt hast'. Als der Mann dies sagt, wird er sichtlich weicher - der Satz stimmt für ihn, es öffnete sich etwas in seiner Brust.“

Die ursprüngliche Liebe (Bindungsliebe) des Sohnes zum Vater darf wieder ans Licht kommen. Die lang empfundene Verachtung dem Vater gegenüber verschwindet und macht Platz für eine tief empfundene Achtung vor der Schwere seines Schicksals.

Bis die Söhne bereit sind, das Leben des Vaters im größeren Kontext der familiären und geschichtlichen Situation anzuschauen und sich im Herzen davon berühren zu lassen, ist es oft ein langer Weg. Meistens ist es nur der Leidensdruck, der uns durch gescheiterte Beziehungen aufbricht, und dazu führt, daß wir bei uns selbst nach den Gründen suchen und uns mit oder ohne Therapie den inneren Abgründen stellen.

Heilung bedeutet immer Öffnung für das Ganze, in unserem Kontext heißt das: mich mit offenem Herzen dem Vater zuzuwenden und damit auch dem, was ihm am Herzen lag, wofür er einzustehen bereit war oder wofür er vielleicht sogar sein Leben gab.

9. In der seelischen Öffnung und im Innewerden kann das Inbild vom Männlichen als Quelle der Erneuerung ins Bewußtsein treten.

Zu 9:

Der psychotherapeutische Prozeß führt zurück zu den Stationen im Leben, in denen sich die Seele verschlossen hat, um sich unerträglichem Schmerz oder Leid zu entziehen. Alles, was ich nicht spüren wollte oder will, ist für mich zum Schatten geworden, zum schwarzen Loch, zur Finsternis, zu meiner Hölle. Solange ich nicht bereit bin, mich dieser meiner Finsternis zu stellen, werde ich die dunkle Seite meiner selbst als das Böse nach außen projizieren, eine unvermeidliche Folge des gespaltenen Geistes.

Die verschlossene Seele öffnet sich wieder, indem wir im Zusammensein mit mindestens einem anderen Menschen einen inneren seelischen Raum erfahren, wo das Leid, die Trauer und auch die damit einhergehenden zerstörerischen Impulse und Gefühle erfahren und durchlebt werden können. Mit offenem Herzen und in der Offenheit der Seele können wir dann spüren, in welchen Momenten wir gefordert sind, Grenzen zu setzen, hart zu sein, zu kämpfen und unbeugsam zu bleiben, unseren Mann zu stehen, ohne uns zu verhärten oder zu verschließen. Ein leuchtendes Beispiel dafür, Grenzen zu setzen und mannhaft dafür einzustehen, ohne sich zu verschließen oder zu verhärten, hat Mahatma Gandhi geliefert. Wenn ich mich entschließe, zu einem NEIN, das von Herzen kommt, voll und ganz zu stehen und auch die denkbar schlimmste Konsequenz in Kauf zu nehmen, kann das Herz offen bleiben. Wenn ich mich nicht dazu entschließen kann, wird das Herz sich verschließen und in der Folge werde ich mich bis ins Körperliche hinein verhärten.

Der psychotherapeutische Verarbeitungsprozeß mündet in eine spirituelle Erfahrung ein. Je tiefer wir eintauchen in die spirituelle Erfahrung der Offenheit, der Stille, der Leere, um so mehr kommen wir verwandelt und gestärkt zurück, wenn wir auftauchen und uns den Herausforderungen unseres Lebens stellen.

Literatur: Jörg Friedrich, Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945, Propyläen Verlag 2002 Anonyma, Eine Frau in Berlin, Tagebuch-Aufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945, Eichborn Verlag 2003 Sabine Bode, Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. Klett-Cotta 2004 Michael Ermann, Wir Kriegskinder. Vortrag im Südwestrundfunk im November 2003 Evangelische Akademie Bad Boll, Damit Europa blühe ... Licht auf die Schatten der Vergangenheit, Tagungsband, Bad Boll 2004 Hunter Beaumont: Die Erlösung der Väter. Ein Vortrag Richard Moss, Der schwarze Schmetterling. Zu den Wurzeln wahrer Lebendigkeit, Ansata Verlag 1989, hier: „Jenseits der Notwendigkeit, Kriege zu führen“, S. 247-257

Weitere Literatur zum Thema: Manfred Koch-Hillebrecht: Hitler. Ein Sohn des Krieges. Fronterlebnis und Weltbild. Herbig Verlag 2003 Gregor Max Vogt und Stephen Sirridge, Söhne ohne Väter. Vom Fehlen des männlichen Vorbilds, Fischer-TB 1995 Horst Petri: Das Drama der Vaterentbehrung. Chaos der Gefühle – Kräfte der Heilung, Herder-Spektrum-Verlag, Freiburg Basel Wien 1999 Hartmut Radebold, Abwesende Väter und Kriegskindheit. Fortbestehende Folgen in Psychoanalysen. Vandenhoek und Ruprecht-Verlag 2004 Hermann Schulz / Hartmut Radebold / Jürgen Reulecke, Söhne ohne Väter. Erfahrungen der Kriegsgeneration, Links-Verlag 2004