Inessa Guseva, Interview mit Tho Ha Vinh

 

 

 

 

 

Dr. Ha Vinh Tho hat sowohl einen vietnamesischen als auch einen französischen Hintergrund. Er ist ausgebildeter Eurythmie- und Heil-Eurythmie-Lehrer und hat an der Universität Genf promoviert in Psychologie und Pädagogik. Außerdem ist er buddhistischer Lehrer, der vom Zen-Meister Thich Nhat Hanh ordiniert wurde. Derzeit ist er Programmdirektor des »Gross National Happiness Center« in Bhutan.

Die Fragen stellt Inessa Guseva

Wie kam es dazu, daß Sie zu meditieren anfingen? Wer war die erste Person, die Sie getroffen haben und von der Sie wußten, daß sie meditiert?

Im Jahre 1969 habe ich mit dem Meditieren begonnen. Damals war ich 18 Jahre alt, das verrät Ihnen also, wie alt ich jetzt bin. 1968 war ich Student in Paris und beteiligte mich an den Studentenunruhen im Mai 1968. Auf der ganzen Welt war das für junge Menschen, die die Gesellschaft hinterfragten, eine ganz besondere Zeit. 1968 in dieser Zeit der Pariser Proteste und des Prager Frühlings war ich auch in Prag.

Obwohl ich aus einer buddhistischen Familie stammte, engagierte ich mich also eher politisch. Mein Vater war zwar Buddhist, aber kein praktizierender Buddhist - das hatte daher keinen großen Einfluß auf meine Erziehung oder mein Leben. Mein Vater war Diplomat, und wir reisten um die Welt. Als Kind und als junger Mann habe ich nicht viel Zeit in Vietnam verbracht. Ich war weniger an spirituellen Dingen interessiert und mehr bei politischen Aktionen engagiert. Spirituelles Interesse gab es vielleicht ein bißchen, aber für mich lag der Schwerpunkt eher auf sozialem und politischem Engagement.

1969 wollte ich mit meiner Familie nach Vietnam zurückkehren, aber es war Krieg - im Grunde war es die schlimmste Zeit des Krieges in Vietnam. Da ich vietnamesischer Staatsbürger war, sagte mein Vater, daß ich eingezogen werden würde, sobald ich nach Vietnam käme. Ich war gegen den Krieg - und wollte nicht eingezogen werden, also bin ich nicht nach Vietnam gegangen. Erst ging ich nach Thailand, dann statt nach Vietnam zurück nach Indien und schließlich nach Nepal.

Als ich in Nepal war, machte ich eine Wanderung in den Bergen des Himalaya. Damals gab es keine Trekking-Agenturen und keine Touristen. Erst ein paar Jahre zuvor hatte sich das Land geöffnet. Überall war nur Wildnis. Kurz gesagt: Ich habe mich verlaufen.

Ich glaubte wirklich, daß ich sterben würde. Im Himalaya war ich verloren. Es ist ein sehr großes Gebiet. An jenem Tag, an dem ich mich verirrte, durchlebte ich einige intensive Erfahrungen. Von Verzweiflung bis hin zu Selbstmitleid; eigentlich alles. Große Angst hatte ich und war mir fast sicher, daß ich sterben würde.

Und dann, an einem bestimmten Punkt, war es, als ob irgendetwas durch Schichten meiner Seele gegangen wäre. Ich fand mich an einen inneren Ort wieder, an dem es völlig friedlich und ruhig war, erfüllt von Zuversicht. Plötzlich kam es zu einem inneren

Einstellungswechsel, und ich spürte, daß die Natur nicht bedrohlich, sondern eine Art Zuhause war. Unverhofft fühlte ich eine tiefe Verbundenheit mit der Erde, als wäre sie mein wahres Zuhause. Eine Erfahrung der Einheit, des Einsseins, des vollständigen Friedens und der Hingabe. An diesem Punkt hatte ich das Gefühl, daß alles gut wird, was auch immer passieren würde. Danach, sicherlich eine Weile später, eine Stunde, vielleicht zwei Stunden, schwer zu sagen, da ich keine Uhr hatte, kam ein alter Mann vorbei. Es war ein alter Lama, der von Dorf zu Dorf ging, um Rituale für die Bauern durchzuführen. Als er mich sah, fing er an zu lachen, weil es so lustig war, diesen jungen Ausländer mitten im Nirgendwo zu sehen. Also brachte er mich zum nächsten Dorf, das gar nicht so weit war, zu Fuß vielleicht eine Stunde entfernt. Ich hatte einfach keine Ahnung, in welche Richtung ich hätte gehen sollen.

Nun war ich sozusagen gerettet, begab mich zurück nach Kathmandu, glaubte durchaus, daß etwas passiert war, hatte aber keine Ahnung, was. Ich wollte verstehen, was ich erlebt hatte und fing an, mich mit tibetischen Lamas zu treffen, die wegen der chinesischen Invasion in Tibet damals aus Tibet flohen. Es waren viele hohe Lamas, die zu der Zeit aus Tibet flohen.

So lernte ich meinen ersten Lehrer kennen, einen tibetischen Lama. Ich erzählte ihm von meiner Erfahrung. Er sagte mir, daß es möglich sei, eine solche Erfahrung bewußt herbeizuführen, nicht nur in einer solchen Ausnahmesituation. Das war meine erste Begegnung mit Meditation. Von da an begann ich, regelmäßig zu meditieren. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, ich würde vielleicht einmal Mönch werden, ein buddhistischer Mönch.

Aber es gab ein paar Dinge, die mich davon abhielten. Ich engagierte mich politisch und wollte diese soziale Arbeit nicht aufgeben. Das war die respektable Begründung. Der andere Grund war, daß ich eine Freundin im Westen, nämlich in Österreich, hatte und sie Wiedersehen wollte. Letztendlich ging ich also zurück. Tatsächlich war es ein guter Grund, denn das Mädchen, das damals meine Freundin war, ist auch heute noch meine Frau. Wir haben gerade unseren 45. Hochzeitstag gefeiert.

Somit kam ich zurück nach Europa. Ich hatte die Höhere Schule abgeschlossen, nun sollte ich ein Studium an der Universität beginnen, doch wußte ich nicht so recht, was ich studieren sollte. Dem normalen akademischen System stand ich sehr kritisch gegenüber und war deshalb nicht so begeistert davon, an die Universität zu gehen. Eigentlich wußte ich nicht, was ich tun sollte.

Zu dieser Zeit lernte ich eine Dame in Wien kennen. Sie hatte ein Antiquitätengeschäft. Es war eine ältere Dame und regelmäßig ging eine Gruppe junger Leute unter irgendeinem Vorwand in ihren Laden, weil sie viel zu sagen hatte. Ich war ein paar Mal dort und als ich ihr sagte, daß ich nicht so recht wüßte, was ich tun sollte, sagte sie mir, ich solle das Goetheanum besuchen.

Sie gab mir ein Buch von Steiner - sie war schon lange eine Anthroposophin, außerdem Heileurythmie-Lehrerin und Sprechkünstlerin. Ich hatte großen Respekt vor ihr, also ging ich zum Goetheanum. Im Zug dorthin las ich mein erstes Steiner-Buch, „Die Apokalypse des Heiligen Johannes“. Das Buch ist schwer zu lesen, und damals war ich 18, vielleicht

19. Und wie es so ist, wenn man jung und naiv ist, hatte ich - nachdem ich das Buch gelesen hatte - das Gefühl, daß ich alles verstanden hatte.

Also ging ich zum Goetheanum. Nie zuvor hatte ich etwas von Anthroposophie gehört.

Und als ich erkundete, was ich dort studieren könnte, sagten sie mir, ich könne Pädagogik oder Malerei oder Sprache und Theater oder Bildhauerei oder Eurythmie studieren und das war’s. Nichts davon hörte sich für mich wirklich interessant an. Auch wollte ich kein Lehrer werden und hatte nicht das Gefühl, ein Maler, Bildhauer oder ähnliches zu sein.

Und dann habe ich dieses Faltblatt durchgesehen und da war etwas über Eurythmie. Ich fand, daß Eurythmie gut klingt, weil ich Yoga gemacht hatte. In diesem Faltblatt stand der Satz: „Gott erschafft Eurythmie, und als Ergebnis seiner Eurythmie entsteht die Gestalt des Menschen.“ Es ging um ätherische Kräfte, die die menschliche Gestalt erschufen. Der Satz hat mich wirklich beeindruckt: und so entschloß ich mich, das anzugehen.

Damals gab es zwei Eurythmie-Schulen. Die erste, die ich anrief (Lea van der Pals), war nicht zu Hause, die zweite - Elena Zuccoli - war zu Hause. Es war Ende September, den Nachmittag verbrachte ich plaudernd mit ihr und und sie gefiel mir wirklich gut. Sie war etwa 75 Jahre alt und war eine dieser „Grandes Dames“, beeindruckend, kultiviert und sehr aufgeschlossen.

Damals hatte ich lange Haare und sah wild aus. Doch das machte ihr nichts aus. Sie war nicht jemand, der auf das Aussehen schaut, und ich war sehr beeindruckt von ihr. Und am Ende unseres Gesprächs sagte ich, okay, ich beginne in der Eurythmie-Schule. Zuvor hatte ich noch nie Eurythmie praktiziert und auch noch nie gesehen.

Die Schule begann im September, sie hatte zwei Wochen vor meinem Gespräch mit Elena Zuccoli begonnen, aber ich konnte trotzdem noch einsteigen. Also begab ich mich zurück nach Wien zu meiner Freundin und erzählte ihr, daß wir nach Dörnach fahren würden, daß sie mit mir zusammen Eurythmie studieren würde. Sie stimmte zu. Also gingen wir dorthin. In Dörnach blieb ich dann vier Jahre.

Das ist die Geschichte, wie ich zur Anthroposophie kam.

Dann begann ich damit, mich auch in der anthroposophischen Meditation zu üben. Doch habe ich auch meine eigene buddhistische Praxis fortgeführt. Das war nicht immer einfach, denn in Dörnach gab es Vorurteile gegenüber dem Buddhismus: die Vorstellung, er gehöre der Vergangenheit an. Aber mir war das eigentlich egal. Sogar der Abstammung nach bin ich zur Hälfte Asiate, zur Hälfte Europäer. Da mein Vater Vietnamese, meine Mutter Französin ist, bin ich es gewohnt, zwischen den Kulturen zu leben. Ich war nur überrascht, sagten die Leute doch immer wieder, Anthroposophie sei keine Religion, aber wenn ich durchblicken ließ, daß ich buddhistische Meditation praktiziere, schienen die Leute das als Problem zu empfinden. Also fragte ich immer wieder: Ist Anthroposophie eine Religion oder nicht? Es war nicht ganz klar. Muß ich zum Christentum konvertieren, um Anthroposoph zu werden, oder kann ich dabei auch Buddhist sein? Die meisten Religionen waren am Anfang ja keine Religionen. Jesus Christus war kein Christ, Buddha kein Buddhist. Erst später, als daraus Institutionen wurden, wurde es zu dem, was die Leute daraus machten.

Warum haben Sie die Anthroposophie als Grundlage gewählt?

Warum ich mich entschieden habe, nach Dörnach zu kommen ... da gab es mehrere Gründe. Ein sehr gewichtiger Grund war, daß ich mich dagegen entschieden habe, ein Mönch zu werden. Für mich war die Frage zentral, wie ich ein spirituelles Leben mit sozialem Engagement verbinden könnte. Dafür gab es nur wenige Möglichkeiten, und mich beeindruckte an der Anthroposophie, daß es sich dabei sowohl um einen spirituellen

Weg als auch um soziales Engagement handelte. Das war also ein Grund.

Der zweite Grund: Als ich als junger Mann damit begann, viele Bücher von Rudolf Steiner zu lesen, war ich beeindruckt von all dem unglaublichen Wissen und der Weisheit. Viele meiner Fragen fanden dort eine Antwort. Ich habe Anthroposophie intensiv und ernsthaft studiert. Einen bedeutenden Teil meines Lebens verbrachte ich in anthroposophischen Einrichtungen. Nach meiner Zeit in Dörnach ging ich als Waldorflehrer nach Deutschland und verbrachte später viele Jahre in einer (heilpädagogischen) Camphill-Gemeinschaft in der Schweiz.

Und in der Anthroposophie und in anthroposophischen Aktivitäten war ich sehr engagiert. Über 20 Jahre unterrichtete ich im Seminar in Camphill und bildete Sonderpädagogen, Sozialtherapeuten und Heilpädagogen aus. Zudem habe ich viele Jahre lang auch Anthroposophie unterrichtet.

In meinem eigenen spirituellen Leben habe ich jedoch immer beide Praktiken ausgeübt, meine buddhistische Meditationspraxis wie auch die anthroposophische Praxis, seit dem Jahr 1974 als Mitglied der „Ersten-Klasse“. Aber für mich war das nie ein Dilemma. Es war einfach das Gefühl, daß mein spirituelles Leben seine eigenen Gesetze hat und zu mir ein eigenes Schicksal mit eigener Übungs-Praxis gehört.

Nicht so sehr definiere ich mich darüber, daß ich dies oder jenes bin: Anthroposoph oder Buddhist und bin auch nicht mit Institutionen identifiziert. In allen Institutionen und allen spirituellen Strömungen gibt es Aspekte, die ich wirklich schätze und an die ich mich halte, und es gibt Aspekte, mit denen ich mich nicht wohl fühle und die ich loslasse.

Warum meditieren Sie?

Wie ich Ihnen eingangs sagte, hatte ich ein inneres Erlebnis, das mir den Zugang zu einer anderen Realität eröffnete, die mir vorher nicht bewußt gewesen war. Danach versuchte ich herauszufinden, wie ich bewußt dorthin gelangen könnte. Ich wollte herausfinden, ob das, was mir spontan widerfahren war, bewußt kultiviert werden könne. War es möglich, bewußter und gezielter auf diese andere Realitätsebene zuzugreifen? Das war wirklich der Ausgangspunkt und das ist einer der Gründe.

Der zweite Grund ist, daß Meditation seit 1969 für mich zu einer regelmäßigen täglichen Praxis geworden ist und in meiner Praxis bin ich sehr diszipliniert. Ich finde, es gibt verschiedene Ebenen der Übung: morgens stehe ich auf und meditiere; es ist so selbstverständlich wie aufzustehen und zu duschen. „Soll ich oder soll lieber nicht?“ Das steht für mich außer Frage, es ist Teil meines Tages, so beginnt jeder Tag.

Wenn ich morgens nicht geduscht hätte, so wäre es mir ein bißchen peinlich und ich würde mir Sorgen machen, daß ich vielleicht nicht gut rieche und mich selbst auch nicht wirklich sauber fühle. Aus meiner Sicht eigentlich genauso ist es mit dem Verstand. Wenn es mir morgens nicht gefällt, meinen Geist zu reinigen, ist das etwas peinlich, denn der Geist muß genauso gepflegt werden wie der Körper. Auf einer bestimmten Ebene handelt es sich also um eine Art Geisteshygiene.

Auf einer anderen Ebene bemerke ich, daß es einen großen Unterschied in meinem Leben macht, was die Art und Weise betrifft, wie ich auf alltägliche Situationen reagiere.

Die Weise, wie ich mit Herausforderungen, Problemen, Leid oder schwierigen Momenten in meinem Leben umgehe. Schon sehr früh habe ich festgestellt, daß mir die meditative Praxis eine tragfähige Grundlage für innere Ruhe und die Fähigkeit gibt, mit vielen verschiedenen Situationen auf eine Weise umzugehen, die hilfreicher ist.

Eine weitere Dimension ist die eher kognitive Dimension, die mir ermöglicht, mich selbst und die Welt besser zu verstehen, also ein Weg zu tieferem Wissen und Selbsterkenntnis.

Darin liegt auch eine Möglichkeit, mein Innenleben zu kultivieren. Ich glaube, daß ethische Eigenschaften wie Mitgefühl, Altruismus, Freundlichkeit oder Großzügigkeit einerseits Teil unserer menschlichen Natur und jedem von uns gegeben sind, andererseits aber auch gepflegt werden müssen. So habe ich beobachtet, daß ich positive Eigenschaften, die ich schätze und die ich im Leben für wichtig halte, durch Meditation kultivieren kann: nämlich mitfühlend, freundlich, großzügig, freigiebig und altruistisch zu sein.

Somit ist Meditation in meinem Leben auf verschiedene Weise und auf verschiedenen Ebenen wichtig.

Was ist das Besondere an der anthroposophischen Meditation?

Die anthroposophische Meditation legt den Schwerpunkt auf Mantras*. Viele Mantras gab Rudolf Steiner in der Esoterik-Schule, in der Ersten Klasse und in vielen seiner Bücher und Vorträge. Natürlich gibt es noch einige andere Praktiken wie die Rosenkreuz- Meditation, die den Schwerpunkt auf ein Bild, ein Symbol legt. Doch die allermeisten Meditationen im anthroposophischen Kontext basieren auf Mantras.

* (Mantra = heilige Silbe, heiliges Wort oder heiliger Vers. Diese sind „Klangkörper“ einer spirituellen Kraft)

Meiner Ansicht nach ist der Fokus der anthroposophischen Meditation hauptsächlich auf die kognitive Dimension ausgerichtet. Anthroposophie versteht sich als ein okkulter Erkenntnisweg, als ein Weg zu höherem Wissen. Diese kognitive Dimension und das Streben nach spiritueller Erkenntnis halte ich für ganz zentral im anthroposophischen Ansatz.

Was ist für Sie die grundlegende anthroposophische Meditation und Übung?

Auch wenn es die sogenannten sechs ergänzenden und unterstützenden Übungen gibt, betrachte ich sie eher als Vorbereitung: die eigentliche Meditation, wie Steiner sie in seinem Buch »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« beschreibt, dreht sich vor allem um das Bestreben, innere Organe zu entwickeln, um die spirituelle Welt wahrzunehmen. Ich glaube, das ist der Fokus der anthroposophischen Meditation, der Fokus auf Mantras und auf die Erlangung spirituellen Wissens.

Ein ganz typisches und konkretes Beispiel für die Übungen ist die sogenannte „Rückschau“ am Abend, ein weiteres ist die Meditation über die Verse des Seelenkalenders. Jede Woche hast du einen anderen Vers, der dich im Verlauf des Jahres durch einen Zyklus begleitet, so daß du den Zusammenhang erfahren kannst zwischen dem, was in dir, dem, was in der Natur, und dem, was im Kosmos passiert. Diese dreifache Verbindung von Innenleben, natürlicher Welt und kosmischer Welt ist meiner Meinung nach ein sehr typisches Beispiel für die öffentlich zugänglichen anthroposophischen Meditationen. Natürlich gibt es auch einige spezifischere Praktiken innerhalb der „Ersten Klasse“ und auch Meditationen für bestimmte Gruppen wie Ärzte, Lehrer, Eurythmie-Praktiker usw.

Wo sehen Sie Ihren Schwerpunkt innerhalb der anthroposophischen Meditation? Was ist Ihr Thema? Was begeistert Sie?

Nach Steiners Anweisungen übe ich täglich einige Praktiken, die aus der Anthroposophie stammen. Das macht etwa ein Drittel meiner Praxis aus.

Vielleicht kennen Sie die Arbeit von Dr. Tania Singer, einer Neurowissenschaftlerin in Deutschland. Sie hat am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig viele interessante wissenschaftliche Forschungen zur Wirkung von Meditation sowohl auf physischer als auch auf psychischer Ebene durchgeführt. Diese Forschung wurde von der EU finanziert und kürzlich zum Abschluß gebracht. Dabei handelte es sich um eine sehr gründliche Forschung mit strengem wissenschaftlichen Protokoll und einer Kontrollgruppe, die aus mehr als 100 regelmäßig meditierenden Teilnehmern bestand [1].

Die meisten der bisherigen wissenschaftlichen Untersuchungen zur Meditation besagten hauptsächlich, daß Meditation eine gewisse positive Wirkung auf Körper und Geist habe, aber das war alles sehr vage. Es ist ein bißchen so, als würde man sagen, daß Bewegung gut ist. Aber Tennis, Fußball, Skifahren oder Klettern haben ganz andere Auswirkungen auf den Körper; Daher ist die Aussage, daß körperliche Betätigung gut sei, sehr vage. Ebenso ist die Aussage, daß Meditation gut sei, sehr ungenau.

Dr. Tania Singer hat ihre Forschung zu drei verschiedenen Praktiken der Meditation durchgeführt: zum einen Achtsamkeitspraktiken, zum zweiten Praktiken, die mit Emotionen arbeiten, um Mitgefühl und liebevolle Güte zu fördern, zum dritten Praktiken, deren Schwerpunkt die kognitive Dimension ist.

Wie schon gesagt ist für mich die anthroposophische Meditation hauptsächlich auf die kognitive Dimension ausgerichtet. Es gibt einige Hinweise zu Achtsamkeitspraktiken, aber nicht sehr detailliert, es gibt auch ein paar Hinweise zu emotionalen Dimensionen, aber nicht sehr ausführlich, im Gegensatz zum Beispiel zu buddhistischen Praktiken, wo wir sehr ausgefeilte Achtsamkeitsübungen haben und es auch spezifische Protokolle zur Transformation emotionaler Zustände gibt.

Die anthroposophische Meditation ist für mich der Teil meiner Meditation, der sich hauptsächlich auf kognitive Übungen bezieht, indem ich gewisse Inhalte und spezifische Mantras verwende, die mit bestimmten kognitiven Dimensionen oder spirituellen Einsichten verbunden sind.

Doch immer praktiziere ich auch die Übung der Achtsamkeit, die phänomenologische Beobachtung der Funktionsweise des Bewußtseins ohne vorgegebenen Inhalt, also reines nicht-eingreifendes Gewahrsein.

Es fängt damit an, zu lernen und sich darin zu üben, die Aufmerksamkeit zu stabilisieren. Denn wenn man mit dem Meditieren beginnt, fällt einem als Erstes auf, daß sie - die Aufmerksamkeit - ständig umherschwirrt. Wir können nicht wirklich entscheiden, worauf unsere Aufmerksamkeit gerichtet sein soll. Die ersten Schritte in Achtsamkeitsübung sind also, zu lernen, die Aufmerksamkeit zu sammeln, dann auf einen Fokus zu richten und im nächsten Schritt, sie bewußt zu kontrollieren und zu lenken.

Das ist der erste Teil der Achtsamkeitspraxis. Das führt dann zur Fähigkeit, die Vorgänge im Bewußtsein zu beobachten, ohne dem irgendwelche Inhalte hinzuzufügen. Meditierst du hingegen über ein Mantra, so richtest du deine Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Inhalt.

Wenn du dich jedoch in Achtsamkeit übst, rückst du nichts in den Mittelpunkt deiner Aufmerksamkeit, Du schaust einfach nur aufmerksam und siehst, was passiert. Es handelt sich also um eine rein phänomenologische Betrachtung der Funktionsweise des Geistes, um nicht-eingreifendes Gewahrsein.

Das macht den größten Teil meiner Meditationspraxis aus, denn für mich ist das der effizienteste oder kraftvollste Weg, die Funktionsweise meines eigenen Bewußtseins zu verstehen, anstatt spezifische Inhalte einzubauen, die meine Aufmerksamkeit auf etwas lenken, das außerhalb von mir liegt, wie zum Beispiel Mantras. Hier geht es darum zu bemerken, wie Gedanken entstehen, wie Emotionen entstehen, wie meine Gedanken und Emotionen miteinander verbunden sind usw. - es ist die reine Beobachtung der Bewußtseinsprozesse ohne vorgegebenen Inhalt, ohne Urteil, ohne Eingreifen, ohne Kontrolle.

Der andere Teil meiner täglichen Praxis, besteht darin, gezielt bestimmte Emotionen und bestimmte Geisteszustände - wie zum Beispiel Mitgefühl - zu kultivieren.

In den buddhistischen Traditionen gibt es viele Übungen, nicht Mantras, sondern Übungen, die dazu verhelfen, bestimmte Geisteszustände oder Qualitäten zu entwickeln. Zum Beispiel konzentrierst du dich darauf, dir jemanden vorzustellen, den du liebst. Wenn du weißt, daß diese Person körperlich oder geistig leidet, richtest du die Aufmerksamkeit auf diese Person und sendest ihr Liebe, Heilung und Freundlichkeit.

Dann führst du das fort mit jemandem, den du kaum kennst. Um ein Beispiel zu geben: Wenn ich als Vater und Großvater an meine Kinder oder Enkel denke, ist es einfach, liebevolle Güte und warme Gefühle zu erzeugen. Möchte ich doch, daß sie glücklich und sicher sind. Sobald ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn ich mich auf jemanden konzentriere, den ich liebe, richte ich meine Aufmerksamkeit auf jemanden, den ich nicht gut kenne wie einen Nachbarn oder Kollegen oder jemanden, der mir nicht sonderlich am Herzen liegt. Dann versuche ich, die gleichen Gefühle, die ich natürlicher Weise für jemanden habe, den ich liebe, für jemanden hervorzurufen, den ich nicht gut kenne.

Wenn ich die Übung fortsetze, stelle ich mir jemanden vor, mit dem ich Probleme habe, vielleicht einen schwierigen Kollegen an meinem Arbeitsplatz, einen Verwandten, der wirklich nervig ist oder der mir Leid bereitet hat. Schließlich kann ich sogar üben, an jemanden zu denken, der berühmt ist, zum Beispiel einen Politiker, den ich für wirklich schrecklich halte. Wenn ich mir diese Person, die normalerweise starke Antipathie hervorruft, vor Augen halte und sie mir vorstelle, übe ich, liebevolle Güte und Mitgefühl gegenüber dieser Person zu entwickeln und mich daran zu erinnern, daß ich diesen Menschen zwar als unfreundlich, lästig oder gemein empfunden habe, er aber wie ich selbst und die Menschen, die ich liebe, ein Mensch ist. Dieser Mensch möchte auch glücklich sein, möchte Leiden vermeiden und hat auch das Potential, sich als ein höheres Wesen zu entwickeln.

Das ist die Art und Weise der Übungen zu liebevoller Güte und Mitgefühl, die ich täglich praktiziere. Drei Arten von Übungen: anthroposophische, mantrische Übungspraxis, Übungspraxis zur Achtsamkeit und Übungspraxis zu liebevoller Güte und Mitgefühl.

Für mich sind sie ganz unterschiedlich, und Dr. Tania Singer hat herausgefunden, daß verschiedene Teile des Gehirns stimuliert werden, wie man sehen kann, wenn man das Gehirn scannt, während die Person diese verschiedenen Übungen ausführt,

Welche Rolle spielen Menschen, die anthroposophische Meditation praktizieren, füreinander? Was sind Chancen und Herausforderungen der gemeinsamen Meditation? Wie ist die Situation jetzt für Sie und wie sollte sie sein?

Als ich vor vielen Jahren als junger Mann in Dörnach war, war es fast ein Tabu, über Meditation zu sprechen. Steiner spricht ständig über Meditation, aber uns wurde nicht beigebracht, wie wir meditieren könnten. Es gab sehr wenig Gespräche darüber und sehr wenig Anleitung, das war nicht einfach.

In meiner buddhistischen Praxis habe ich einen Lehrer, und wir haben oder hatten viele Gespräche über Meditation, konnten unsere Erfahrungen austauschen, Feedback und Ratschläge erhalten. Als Eurythmie-Schüler hatte ich sehr gute Lehrer, die mir bei meiner Eurythmie-Praxis geholfen und mir Ratschläge gegeben haben, und alle fanden das in Ordnung. Aber wenn ich das Gleiche in Bezug auf Meditation erwähnte, war die Antwort, daß ich als menschliches Wesen der Moderne keinen Lehrer brauche, daß das der Vergangenheit angehöre, und das Wort „Guru“ wurde dabei fast wie ein Schimpfwort erwähnt. Aber eigentlich ist „Guru“ das Sanskrit-Wort für „Lehrer“, nicht mehr und nicht weniger. Deshalb verstand ich nicht, warum ich Lehrer brauchte, um Eurythmie zu lernen, aber um Meditation zu lernen, keinen haben sollte, in gewisser Weise ist Meditation die ultimative Form der Kunst.

Auch das Meditieren in der Gruppe war im anthroposophischen Kontext zu jener Zeit tabu. Ich habe nie wirklich verstanden, warum. So wurde mir gesagt, Meditation sei etwas, das man alleine in seinem Zimmer praktiziert, wenn man es in der Gruppe macht, ist es nicht wirklich Anthroposophie.

Aus meiner buddhistischen Praxis bin ich es gewohnt, mich mindestens zweimal im Jahr zur inneren Einkehr an einen Rückzugsort (Retreat) zu begeben, wo wir alle zusammen viele Stunden am Tag meditieren. Nach meiner Beobachtung ermöglichen diese Zeiten intensiver Meditation mit anderen Menschen eine enorme Vertiefung der Praxis, die ich alleine nicht erreichen kann. Wenn man zusammen mit anderen praktiziert und die Probleme, mit denen man konfrontiert ist, besprechen und sich austauschen kann, ist das eine großartige Quelle für Erkenntnisse.

Inzwischen haben sich die Dinge in der anthroposophischen Welt geändert, und ich bin dankbar, daß mein lieber Freund Arthur Zajonc, der ehemalige Präsident des »Mind & Life Institute«, entscheidend dazu beigetragen hat, die Fragen, in denen es um Meditation geht, viel offener zur Sprache zu bringen. Aber das ist relativ neu. Vorher war es ein Problem, weil es ein Gefühl erzeugte, als wäre Meditation etwas sehr Okkultes und ein Geheimnis, das nur wenigen Glücklichen Vorbehalten wäre. Wenn man sich auf der Welt umschaut, ist Meditation zur vorherrschenden Strömung (Mainstream) geworden und wird von vielen Menschen aus allen Gesellschaftsschichten praktiziert.

Übungen zur Achtsamkeit gibt es inzwischen in der Wirtschaft, im Gesundheitswesen, in Schulen. Sich so zu verhalten, als sei das etwas Geheimnisvolles und nur wenigen Eingeweihten Vorbehalten, ist völlig überholt. Einer der Gründe, warum die anthroposophische Meditation nicht bekannter ist, liegt darin, daß die Menschen nichts über sie ausfindig machen können.

Derweil sind die buddhistische Meditation und viele andere Meditationspraktiken wie die auf Achtsamkeit basierende Stressreduktion (MBSR) - um nur eine Art von Praxis zu nennen - sehr bekannt geworden und sind leicht zugänglich. Es lassen sich ganz einfach Orte, Seminare, Rückzugsorte und Termine finden, wo man das lernen kann.

Der andere Aspekt ist, daß der spirituelle Weg nicht nur etwas Individuelles ist, sondern stets auch zur Bildung von Gemeinschaften führt. Das war schon immer so. Alle spirituellen Traditionen haben das Element der Gemeinschaft und der spirituelle Geist ist auch das, was Gemeinschaften zusammenbringt.

Deshalb halte ich gemeinsames Üben, Erfahrungsaustausch und gegenseitige Unterstützung nicht nur für möglich, sondern für absolut notwendig. Deshalb ist es gut, daß die Anthroposophische Gesellschaft offener für das gemeinsame Praktizieren geworden ist und dadurch den Zugang zum Austausch der Erfahrungen ermöglicht.

Wo stehen wir als anthroposophische Gemeinschaft jetzt und welche Wünsche haben Sie für die Zukunft?

Wie ich Ihnen bereits sagte, identifiziere ich mich nicht nur mit der Anthroposophie. Für mich ist es eine der Inspirationsquellen, aber nicht die einzige. Ich glaube, daß wir uns in einer Zeit befinden, in der wir unsere konfessionellen Unterschiede überwinden müssen, die Trennung aufgrund von Glaubensbekenntnissen. Wir leben in einer interkulturellen und interreligiösen Zeit, Gemeinschaften sind nicht mehr voneinander getrennt. Im Westen gibt es in allen Ländern inzwischen eine bunte Mischung von Menschen, die zusammen leben, Muslime und Juden, Buddhisten und Christen, Hindus und viele andere. Wir müssen lernen, miteinander zu sprechen, uns gegenseitig zu unterstützen und nicht nur mit den Angehörigen der eigenen Glaubensgemeinschaft zu sprechen.

Lassen Sie mich ein Beispiel anführen: Im Jahr 2009 war ich in Kopenhagen, als dort die große Klimakonferenz stattfand und alle Welt dort war. Die Regierungen, die nicht­staatlichen Hilfsorganisationen (NGOs) und spirituellen Bewegungen leisteten ihren Beitrag, aber die Anthroposophische Gesellschaft war nicht vertreten. Ich war nicht dort, weil ich Anthroposoph war. Ich war dort aufgrund meiner humanitären Arbeit und meiner Arbeit im sozial engagierten Buddhismus.

Nach der Konferenz fuhr ich nach Dörnach und bat um ein Treffen mit dem Vorstand. Ich habe sie gefragt, warum sie nicht dabei waren, obwohl - wie ich glaube - die Anthroposophie in einem solchen Kontext einen wichtigen Beitrag zu leisten hat.

Meiner Ansicht nach wird ihr Beitrag nur dann fruchtbar sein, wenn die Anthroposophie aus der abgeschlossenen Situation ihrer Nische heraustritt. Damit das gelingt, ist aus meiner Sicht folgendes notwendig:

Erstens bedarf es großer Demut. Wenn ich als Anthroposoph glaube, daß ich auf alles eine Antwort habe, weil ich es in den Büchern von Rudolf Steiner gelesen habe, kann ich natürlich mit niemandem reden, weil ich es ja weiß und die anderen nicht. Das ist keine Grundlage für einen wirklichen Dialog und ein offenes Gespräch. Es fühlt sich vielmehr an, als ob ich ein Missionar wäre. Stattdessen müssen wir bescheiden und demütig sein.

Zweitens interessiert es niemanden, was ich gelesen habe, sondern Menschen sind nur daran interessiert, was ich erlebt habe. Wenn ich Steiner zitiere, wird es niemanden interessieren - falls doch, kann es jeder einfach selbst lesen. Wenn ich jedoch meine Erfahrungen teile und von dem spreche, was ich bezeugen kann, weil ich es selbst erlebt habe, werden sich die Leute dafür interessieren. Deshalb schätzen die Leute Arthur Zajonc oder Otto Scharmer und andere, die aus ihrer eigenen Erfahrung sprechen. Sie werden vorbehaltlos akzeptiert, können in jedem offenen Forum vertreten sein und ihre Stimmen werden gehört.

Wenn wir wollen, daß die Anthroposophie ihren Beitrag leistet, müssen wir die illusionäre Vorstellung aufgeben, „wir hätten die Antworten und müßten sie anderen erzählen“ - das wird nicht funktionieren. Als Anthroposophen müssen wir damit aufhören, ständig Steiner zu zitieren und stattdessen anfangen, aus unserem Inneren heraus zu sprechen, aus dem, was wir tatsächlich selbst erlebt haben. Das berührt die Menschen - die Anthroposophie hat doch so viel zu bieten.

Ich engagiere mich sehr im Bildungsbereich und bin davon überzeugt, daß die Waldorfpädagogik immer noch eines der besten Systeme ist, die es weltweit gibt. Solange es dieses Angebot nur für eine sehr begrenzte Gruppe gibt, ist das als Labor in Ordnung, aber es wird keinen großen Wandel hervorrufen. Was im Labor passiert, muß in die Welt hinaus. Es sind viele Millionen Kinder, die ein besseres Bildungssystem, das den Bedürfnissen unserer Zeit tatsächlich entspricht, dringend brauchen, nicht nur die wenigen ausgewählten Waldorfschüler.

Wie können wir die Essenz der Waldorfpädagogik in die gesamten Bildungssysteme der Welt einfließen lassen, denn dort sind Veränderungen nötig?

Denken Sie an die biodynamische Landwirtschaft. Mittlerweile sind Bio-Lebensmittel der große Trend, jeder spricht davon. Die biodynamische Landwirtschaft war jedoch der erste Ansatz, Bio-Lebensmittel zu produzieren. Und dennoch ist sie nicht sonderlich bekannt. Permakultur ist mittlerweile viel bekannter. Jedoch ist sie nicht ein so umfassender Ansatz wie die biodynamische Landwirtschaft.

Aber wenn es viel ideologischen Überbau gibt, ist es zu kompliziert, zu schwierig. Wenn man erst die Idee der Akasha-Chronik oder des Saturns im Altertum akzeptieren muß, bevor man mit dem Anlegen eines Gartens beginnen kann, wird es nicht funktionieren. Ich glaube, daß es einen Wandel im Diskurs geben muß, dann kann der enorm wertvolle Beitrag, den die Anthroposophie für die Gesellschaft leisten kann, fruchtbar werden. Solange Anthroposophen nur mit ihresgleichen sprechen, passiert nicht viel, wir bleiben in der Nische.

Ich habe nichts dagegen, aber es reicht eben nicht, um die großen Herausforderungen der Welt zu meistern. Nach über hundert Jahren gibt es etwa 50.000 Anthroposophen weltweit und was ist das? Gerade mal eine Kleinstadt. Mir ist schon klar, daß Quantität nicht alles ist. Dennoch ist es Realität, daß wir 7 Milliarden Menschen auf diesem Planeten sind, die eine gemeinsame Verantwortung tragen und vor gemeinsamen Herausforderungen stehen.

Glauben wir wirklich, daß alle Menschen auf der ganzen Welt Anthroposophen werden? Natürlich wird das nie passieren, aber das bedeutet nicht, daß die Anthroposophie nicht etwas wirklich Wichtiges und Wertvolles beizutragen hat. Das hat sie, aber es bedarf einer angemessenen Sprache, der Demut und Offenheit, um in einen echten Dialog einzutreten. Die zugrunde liegende Idee, wir wüßten es besser, muß aufgegeben werden. Nur dann kann die Anthroposophie den dringend benötigten Beitrag leisten. Ich glaube, daß die Herausforderungen unserer Zeit so ernst und ausschlaggebend sind, daß alle Menschen, die für eine spirituelle Erneuerung in unserer Gesellschaft eintreten wollen, Zusammenarbeiten müssen. In der Isolation bringen wir nichts zustande.

Haben Sie einen Rat für jemanden, der mit dem Meditieren beginnen möchte?

Zunächst einmal muß Meditation zur Gewohnheit werden. Wir sind Gewohnheitstiere, man kann nicht ab und zu meditieren, und dann auf einmal lange und tief. Viel wichtiger ist es, ganz bescheiden anzufangen, zum Beispiel 10 Minuten am Tag. Aber man muß es täglich machen, es muß also wirklich eine regelmäßige Übung sein. Es ist so ähnlich, wie wenn du deinen Körper trainierst. Du weißt, daß du nicht mit einem Marathonlauf beginnen kannst. Du fängst mit einem Lauf von 5-15 Minuten an, dann verbessern sich nach und nach die Atmung und die Muskeln deines Körpers und nach einer Weile kannst du länger laufen. Bei der Meditation ist es im Großen und Ganzen das Gleiche. Aufmerksamkeit ist wie ein Muskel, seine Kapazität muß trainiert werden. Beim Training kommt es vor allem auf Regelmäßigkeit an.

Desweiteren ist es unabdingbar, nicht von einer Sache zur anderen zu springen. Erst das eine und dann etwas anderes auszuprobieren, das wird nicht funktionieren. Du mußt eine Übung oderein Mantra oder was auch immer finden, bei dem du spürst, daß es irgendwie zu dir paßt. Und dann praktizierst du es lange Zeit, ohne etwas zu verändern, denn erst durch die Vertiefung findest du heraus, wie es wirkt - nicht indem du von einer Sache zur anderen springst.

Und der dritte Punkt ist: Es ist gut, in deinem Leben Zeiten zu haben, in denen du intensiv übst - nicht nur 10 Minuten am Morgen. Ich persönlich mache zwei- bis dreimal im Jahr eine Innere Einkehr an einem Rückzugsort (Retreat), wo ich genügend Zeit habe und viel mehr als sonst übe.

Wenn du täglich 20 oder 30 Minuten meditierst, stellen sich kaum ganz tiefe Erfahrungen ein. Deshalb kann es zu einer gewissen Ernüchterung kommen: Jetzt habe ich schon so lange geübt, aber es passiert nicht viel. Wenn du jedoch hin und wieder Zeit für eine tiefergehende Meditation hast, gelangst du in tiefere Bewusstseinsschichten und machst dann Erfahrungen, die die Begeisterung und auch den Willen zum Praktizieren stärken.

Das ist wichtig. Zum Beispiel organisiere ich seit 15 oder 16 Jahren jeden Sommer eine Zeit für Innere Einkehr in den Schweizer Bergen - etwa hundert Leute nehmen daran teil, davon viele junge Leute, und wir praktizieren zusammen, das ist intensiv und stärkt das Üben enorm.

Schließlich ist es hilfreich, einen bestimmten Platz für deine Praxis zu haben. Wenn du es dir leisten kannst, für die Übungs-Praxis einen eigenen Raum zu haben, ist das großartig. Wenn nicht, kannst du mindestens eine Ecke dafür einrichten, auch wenn es nur eine kleine Ecke im Schlaf- oder Wohnzimmer ist, wo du etwas Schönes platzierst, ein Bild, das dir gefällt, oder eine Blume. Wenn du dich an diesen Platz begibst, befindest du dich bereits in einem anderen Geisteszustand. Wenn du einen eigenen Platz hast, entsteht dort langsam eine Atmosphäre. Auch wenn es etwas Äußerliches ist, es ist doch unterstützend. Seit ich 19 war, hatte ich immer einen Platz, der meiner Übungs-Praxis gewidmet war. Selbst als wir als Studenten in Dörnach mit Freunden in einer WG wohnten und nicht viel Platz hatten, hatte ich doch immer eine Meditationsecke oder einen Platz zum Meditieren. Das hatte für mich Priorität. Jetzt bin ich froh, in einem Haus einen ganzen Raum zum Meditieren zu haben.

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Meine Hauptaktivität liegt derzeit in Bhutan im »Gross National Happiness Center«. Wir arbeiten an einem alternativen Paradigma für die menschliche Entwicklung und an ganzheitlichen Indikatoren, um die Entwicklung zu messen - nicht in finanzieller Hinsicht, sondern in Bezug auf Glück und Wohlbefinden. Das schließt Achtsamkeits- und Meditationsübungen mit ein, denn wir glauben, daß jeder Glückserfahrung zwei Komponenten zugrunde liegen. Zum einen geht es darum, ein förderliches Umfeld zu schaffen, in dem sich Menschen entfalten und entwickeln können. Das ist eine gesellschaftliche Verantwortung und politische Aufgabe. Zum zweiten gibt es das, was wir „Glücksfähigkeiten“ nennen, das ist unser innerer Geisteszustand, der sich nur von innen heraus in uns selbst entfalten kann. Und hier kommen Achtsamkeit und Meditation ins Spiel. Das machen wir in Schulen und Universitäten und auch in Unternehmen. Das war jetzt die Kurzversion, denn das ist ein Thema für sich.


nach der englischen Vorlage im Juli 2023 ins Deutsche übersetzt
von Ekkehard Ortmann