Interview von Ha Vinh Tho zum Film über Rudolf Steiner

THO HA VINH, Interview zum Film
'The Challenge of Rudolf Steiner'

Sprecher1: [00:00:25] Ich glaube, bei der Betrachtung Rudolf Steiners gibt es zwei Seiten, die in gewisser Weise ganz unter-schiedlich und oft irgendwie vermischt sind. Das eine ist, daß ein Teil von Rudolf Steiners Werk seiner Zeit und sogar unserer Zeit voraus ist. Wenn man bedenkt, daß diese Gedanken und Aspekte zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden, ist das wirklich außergewöhnlich, außerordentlich. Und so gibt es etwas im Werk und den Gedanken Rudolf Steiners, das in der Tat auf Bedürfnisse eingeht und sie erfüllt, die heute dringlicher geworden sind als noch vor etwa 100 Jahren. Zum Beispiel: Zu der Zeit, als Rudolf Steiner die biodynamische Landwirtschaft entwickelte, war die landwirtschaftliche Situation der Welt ganz anders als heute. Und doch entsprechen die Ideen, die er entwickelt hat, tatsächlich den Bedürfnissen und Notwendigkeiten, die wir heute haben, denn so etwas wie die intensive chemische Landwirtschaft gab es damals noch nicht.

Sprecher2: [00:01:48] Es fing gerade erst an, Wirklichkeit zu werden.

Sprecher1: [00:01:49] Der erste Anfang. Nun, wenn man sich die Nahrungsmittelkrise anschaut, die die Welt heute erlebt, sieht man, wie die Lösungsansätze, die beispielsweise für die Entwicklungsländer vorgeschlagen wurden, nicht wirklich funktioniert haben. Heute haben wir mehr Nahrungsmittel- und Hungerprobleme als je zuvor, obwohl es für das neue Jahrtausend die hochgesteckten Ziele der UN gab und gibt usw.. Es gibt einen Teil von Steiners Werk, der den Bedürfnissen unserer Zeit im 21. Jahrhundert tatsächlich entspricht. Wir könnten auf Beispiele eingehen, doch ist das nur die eine Seite. Und die andere Seite ist: Steiner als Mensch des beginnenden 20. Jahrhunderts gibt seine Botschaft weiter mit Beispielen, einem Wortschatz, einer Art zu denken, zu sprechen, zu formulieren, die allerdings nicht der Meinung der heutigen Menschen oder der heutigen Denkweise entspricht. Daher gibt es also eine Art Diskrepanz. Und ich finde, daß einerseits die Gefahr besteht, das Ganze so zu betrachten, als ob alles um Rudolf Steiner einfach die absolute Wahrheit wäre. Und man alles oder nichts nehmen müsse und dann keinen Unterschied mehr macht zwischen verschiedenen Aspekten seiner Arbeit und seinen Gedanken. Tatsächlich hatte das alles mit seiner Zeit zu tun und muß komplett neu formuliert und in eine andere Sprache übersetzt werden, so daß eine andere Art der Übermittlung der Botschaft möglich wird. Und andererseits die Tatsache, daß er uns so viele absolut bedeutsame Antworten oder Richtungshinweise gegeben hat, die sich auf Bedürfnisse und Notwendigkeiten beziehen, deren Berücksichtigung heute tatsächlich noch dringlicher ist als damals. Ich glaube also, wenn wir vermitteln könnten, daß man weder alles als wahr ansehen, als Gesamtpaket betrachten und zu allem, was Steiner gesagt hat, Ja und Amen sagen muß noch total kritisch alles als mystisch, seltsam, unwissenschaftlich usw. ablehnen und abtun muß, wäre das sehr hilfreich. Lassen Sie uns ernsthaft versuchen, diese beiden Aspekte zu sehen und zu unterscheiden.

Sprecher2: [00:04:12] Ja, ja. Glauben Sie, daß Steiner vorhergesehen hat, wie tief wir im 20. Jahrhundert absinken würden, oder spüren Sie in irgendeiner Weise, daß sein Optimismus, sein Glaube an unser Potential eigentlich dabei ist, Wirklichkeit zu manifestieren? Ich meine, sind Sie hinsichtlich der Entwicklung der Dinge optimistisch oder pessimistisch? Sie sind ja viel und weit gereist.

Sprecher1: [00:04:44] Ja, stimmt. Tatsächlich sind aufgrund meiner Arbeit beim Internationalen Komitee des Roten Kreuzes die meisten Orte, die ich bereise, Konfliktorte, wo ich einige der dunkleren Seiten der heutigen Welt erleben kann. Ich meine die Konfrontation mit den sogenannten dunklen Seiten, mit Konflikten. In den letzten Jahren war ich in Afghanistan, in Darfur, an vielen Konfliktorten, wo auch immer, es ging mir gut. Wo es Bomben und Konflikte gibt, das sind die Orte, die im Fernsehen zu sehen sind. Dies sind auch die Orte, die ich bereise. Nicht nur ich, wir alle, die bei dieser Organisation arbeiten. Wenn man an sochen Plätzen ist, erlebt man natürlich auch die dunklen Seiten, denn es gibt Krieg, Leid, Verwundete und Tote. Aber auch gerade an diesen Orten sieht man viel Heldentum, Mut, Mitgefühl, Menschen, die sich gegenseitig helfen. Es gibt also auch an schwierigen Orten viel Menschlichkeit. Und dann gibt es Regionen wie Westeuropa, die ziemlich reich und wohlhabend und sicher sind und wo es dennoch viel Leid gibt, doch eher inneres Leid, Leiden an Sinnverlust und Menschen, die wirklich nicht wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen. Die dunkle und die helle Seite sind nicht von einander getrennte Pole, sondern sind – wie ich glaube – verwoben, auf komplexe Weise tatsächlich miteinander verwoben.

Sprecher2: [00:06:26] Ja, verwoben.

Sprecher1: [00:06:29] Danke. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich habe das Gefühl, daß wir einerseits den Zerfall einer alten Welt erleben. Viele Dinge fallen einfach auseinander. Schauen Sie sich die Weltwirtschaft, die Ökologie und viele andere Bereiche an, in welchem Zustand sie sich befinden. Es gibt einen bestimmten Bereich, der zu Ende geht und auseinanderfällt. Und wenn man sich das anschaut, dann ist es irgendwie dramatisch und tragisch. Es geschieht vieles, was die Lage immer schwieriger werden läßt. Andererseits scheint sich überall auf der Welt ein Neuanfang bemerkbar zu machen, mit vielen zarten Keimen. Zeichen des Aufbruchs zu Neuem. Bin ich nun optimistisch oder pessimistisch? Ich könnte es nicht sagen. Ich sehe tatsächlich beide Seiten und glaube, daß wir in einer Zeit leben, in der Vieles zerstört und nicht mehr so sein wird, wie wir es in der Vergangenheit kannten. Doch ist das wahrscheinlich notwendig, damit etwas Neues entstehen kann, obwohl wir noch nicht genau wissen, wie und was das Neue sein wird. Aber wir spüren das und ich glaube, daß Rudolf Steiners Beitrag in diesem Licht zu sehen ist. Wir sollten uns daran erinnern, daß er Österreicher war und zu welcher Zeit er gelebt hat. Als Zeuge beim Zerfall des österreichischen Kaiserreichs befand er sich auch in einer solchen Übergangssituation, in der er sehen konnte, wie eine alte Welt auseinanderbrach und sich neue Möglichkeiten auftaten. In gewisser Weise spiegelt sich das, was Steiner seinerzeit erlebte, wieder in dem, was wir heute erleben.

Sprecher2: [00:08:15] Was war Ihrer Meinung nach der Kern seiner Vision im Hinblick auf unsere Möglichkeit, diese Schwelle zu überschreiten?

Sprecher1: [00:08:27] Ich glaube, daß Steiners Kernbotschaft sein grundlegendes Vertrauen in den Menschen ist. Denn in einer seiner Definitionen der Anthroposophie heißt es: Anthroposophie ist das Bewußtsein unserer eigenen Menschlichkeit. Allem, was er in die Tat umsetzte – z.B. Waldorfpädagogik, anthroposophische Medizin oder Heilpädagogik – lag die Überzeugung zugrunde, der Mensch sei ein spirituelles Wesen. Auch wenn er hier einen irdischen Körper bewohnt – im Wesentlichen ist er geistiger Natur. Und in diesem spirituellen Wesen finden wir die Quelle für alle Hoffnung mit Blick auf Zukunft. Es besteht somit die Möglichkeit eines Neuanfangs, einer Neuschöpfung, die Möglichkeit zur Überwindung von Leid und Hindernissen. Das ist für mich die Essenz von Steiners Botschaft und ihr universeller Aspekt, denn unsere Menschlichkeit ist eine gemeinsame Qualität jenseits aller Religionen.

Sprecher2: [00:09:56] Es gibt sicherlich viele Leute, die mit dieser Definition kein Problem hätten und die das auch fühlen oder spüren könnten. Der Mensch hat Potential und die Menschlichkeit ist uns als Möglichkeit gegeben. Aber Steiner ist doch weitaus präziser, nicht wahr?

Sprecher1: [00:10:14] Ja, auf jeden Fall. Weil Steiner versuchte, das Potential und seine Entfaltung bis ins kleinste Detail zu verstehen, entwickelte er dieses erstaunliche Denk-System und eine Art Kosmologie. Wenn man sagt, der Mensch sei ein spirituelles Wesen, ist das eine sehr vage Aussage. Doch Steiner versuchte aufzuzeigen, welche Konsequenzen das hat, um die Entwicklung des Kindes und die Evolution der ganzen Menschheit besser zu verstehen. Und was davon können wir im Alltag in der irdischen Welt umsetzen? Ich glaube, es ist der Versuch, nicht bei einer idealistischen Gesamtschau stehen zu bleiben. Der Mensch ist ein spirituelles Wesen. Ja und? Das Bestreben, aus dieser schemenhaft nebulösen Situation herauszukommen, führt Schritt für Schritt zu den praktischen Konsequenzen für das tägliche Leben – für dieses spirituelle Wesen, das ja eine spirituelle Ganzheit ist.

Sprecher2: [00:11:20] Was verstehen Sie denn unter dem Begriff Geisteswissenschaft?

Sprecher 1: [00:11:26] Nun, für Steiners Ansatz steht es im Mittelpunkt aufzuzeigen, daß der Geist, die spirituelle Welt, unsere eigene spirituelle Realität nicht nur eine Frage des Glaubens ist, sondern daß es tatsächlich untersucht werden kann, aber auf kontemplative Weise, nicht auf äußerliche wissenschaftliche Weise – und daß dieser kontemplative Ansatz sehr systematisch, rational und strukturiert sein kann. Es war also tatsächlich ein Versuch, den wissenschaftlichen Ansatz mit dem kontemplativen spirituellen Ansatz zu verbinden. Allerdings habe ich das Gefühl, daß diese Bemühungen noch keineswegs abgeschlossen sind.

Sprecher2: [00:12:25] Es hat damit noch nicht einmal richtig begonnen, oder?

Sprecher1: [00:12:29] Nun, ich würde nicht sagen, daß es noch nicht begonnen hat. Es wurden einige Schritte getan, aber wenn ich Rudolf Steiner lese, gibt es auf jeden Fall eine Reihe von Schritten und Erkenntnissen, von denen ich wirklich das Gefühl habe, daß ich ihnen folgen und sie mir zu eigen machen kann. Und dann begibt er sich plötzlich in Sphären, wo ich sagen muß – wenn ich ehrlich bin: Na ja, ich habe keine Ahnung. Vielleicht ist es so, vielleicht auch nicht. Wissen Sie, ich habe keine Ahnung, ob der alte Mond oder der alte Saturn so oder so waren. Kann ich das also wissenschaftlich angehen? Ich sicherlich nicht. Vielleicht konnte er es. Ich möchte diese Frage jedenfalls offen lassen. Es war stets mein Bemühen, ganz ehrlich zu sein, welche Elemente der Anthroposophie ich wirklich verstanden, erlebt und verinnerlicht habe, daß ich sie als meine eigene Erkenntnis darstellen kann und es sich deshalb auch stets gut anfühlt, diese mit jemandem zu teilen. Und von welchem Teil seiner Lehren ich nur feststellen kann, daß er das gesagt hat, daß ich es auch als Hypothese akzeptieren kann. Doch wenn ich ehrlich bin, weiß ich es nicht. Es könnte richtig sein. Es könnte falsch sein. Auch dabei bin ich bestrebt, sehr ehrlich zu sein.

Sprecher2: [00:13:51] Inwieweit ist dieses Wort Anthroposophie Ihrer Meinung nach hilfreich oder nicht hilfreich? Ich meine, für viele Leute hat es einen kultischen, ja elitären Beigeschmack. Ich meine, Steiner müßte sich dieser Gefahr bewußt gewesen sein. Oder vielleicht zu dieser Zeit auch nicht. Oder glauben Sie, daß das Wort kein Problem ist?

Sprecher1: [00:14:14] Ich weiß nicht, ob das Wort ein Problem darstellt. Ich meine, es hat einen historischen Hintergrund, denn es war für Steiner der Schritt von der Theosophie, die noch mystischer war, zur Anthroposophie. Er versuchte also, es mehr auf die menschliche Dimension zu reduzieren. Also Weisheit des menschlichen Daseins oder so ähnlich. Ist das Wort nun ein Problem? Ich weiß es wirklich nicht.

Sprecher2: [00:14:39] Ist es Ihnen beispielsweise recht, wenn man Sie einen Anthroposophen nennt?

Sprecher1: [00:14:43] Ich bezeichne mich selbst nicht als Anthroposoph, denn ich bin mir nicht sicher, was es bedeuten würde, mich als solcher zu bezeichnen. Aber sehen Sie, es war meine erste Idee, meine Doktorarbeit über Steiners Anthropologie zu schreiben. Damals arbeitete ich mit Kindern, die mit Behinderungen leben, als ich im Bereich Bildung promovieren und als Thema meiner Dissertation das Verständnis von Rudolf Steiners Anthropologie nehmen wollte. Also sein Menschenverständnis als Grundlage seiner pädagogischen Dimension. Mehrere Universitäten habe ich besucht und keinen einzigen Professor gefunden, der bereit war, das Risiko einzugehen, dies als Thema zu behandeln. Und es war nicht die Anthroposophie, sondern es war wirklich Steiner selbst. Er ist in vielen akademischen Kreisen immer noch ein Tabu.

Sprecher2: [00:15:46] Warum? Was glauben Sie?

Sprecher1: [00:15:47] Nun, wissen Sie, wenn Rudolf Steiner nur „Philosophie der Freiheit“ – seine frühen Werke – geschrieben hätte, wäre er wahrscheinlich ein sehr anerkannter Denker. Aber für unsere Zeit ist es inakzeptabel, daß ein einzelner Mensch vorgibt, so viel über so viele verschiedene Dinge zu wissen, von der Landwirtschaft über die Medizin, die Kosmologie bis hin zur Architektur und was auch immer. Zu fast allem hat er etwas zu sagen; das paßt einfach nicht zu unserem Wissenschaftsansatz, der hochspezialisiert ist. Dieser Renaissance-Ansatz von Steiner oder Leonardo da Vinci, der das gesamte Wissen seiner Zeit umfaßt, ist daher für unsere Zeit einfach nicht nachvollziehbar.

Sprecher2: [00:16:36] Die Leute sind mißtrauisch, meinen Sie?

Sprecher1: [00:16:37] Äußerst mißtrauisch. Und dann natürlich, und das nimmt Bezug auf das, was ich am Anfang gesagt habe, mißtrauisch gegenüber der Art und Weise, wie viele der Vorträge gehalten wurden. Sein Vokabular, seine Sprache ist wirklich nicht mehr zeitgemäß. Selbst wenn es ein sehr aufgeschlossener Mensch ist, der einfach irgendein Buch von Steiner aufschlägt, ganz zufällig, hört er vielleicht nach einer Seite auf und sagt: „Was ist das?“ Was bedeutet das? Wissen Sie, es ist nicht verständlich. Und ich glaube, daß noch enorme Arbeit geleistet werden muß, um den Kern, die wesentlichen Aspekte seiner Gedanken und Lehren so neu zu formulieren, daß sie unserer Zeit wirklich zugänglich sind.

Sprecher2: [00:17:24] Das ist es, was er auch gewollt hätte. Ich kann mir vorstellen, daß er gar nicht wollte, daß die Leute ihm einfach alles glaubten. Oder? Ich meine, er wollte uns herausfordern, die Arbeit selbst zu tun.

Sprecher1: [00:17:35] Aber in dieser Hinsicht war er nicht so erfolgreich. Nein, gar nicht. Denn viele Menschen nahmen nach seinem Tod die Anthroposophie als eine Art Offenbarung. Und das ist meiner Meinung nach für die anthroposophische Bewegung bis heute noch ein großes Problem.

Sprecher2: [00:17:58] Wahrscheinlich. Es mutet an, daß es einfach zuviel ist, es klingt fast wie eine Religion.

Sprecher1: [00:18:01] Ja, absolut. Aber ich glaube, es gibt eine ganze Reihe von Menschen auf der Welt, die wirklich Außergewöhnliches leisten, die von Steiners Ideen inspiriert sind und sich doch nicht Anthroposophen nennen würden. Steiners Wirkung, sein Einfluß ist meiner Meinung nach viel größer, als es oberflächlich den Anschein hat. Wie ich glaube, hat sich ein großer Teil dieses Einflusses nicht unbedingt innerhalb der anthroposophischen Gesellschaft oder der formellen Organisation der Anthroposophie, sondern auf vielfältige andere Art in der Welt ausgebreitet. Ich möchte noch über meine Erfahrungen bei der Arbeit im Bereich der Sonderpädagogik in Vietnam berichten. Die Arbeit, die ich in Vietnam mache, ist definitiv von der Anthroposophie inspiriert und dem, was ich in der (heilpädagogischen) Camphill-Bewegung gelernt habe. Und wissen Sie, nach dem Krieg, nach dem Vietnamkrieg, gab es viele Probleme mit den Kindern, die Agent Orange ausgesetzt waren. Das ist diese Chemikalie, die von der amerikanischen Armee verwendet wurde mit schrecklichen Folgen für die Bevölkerung, insbesondere für schwangere Frauen und ihre Kinder. Es gab also ein enormes Problem mit den behinderten Kindern in Vietnam. Als ich nach dem Krieg nach Vietnam zurückkam, wurden wir gebeten, dort zu helfen. Das ist so.

Sprecher2: [00:19:36] Das Rote Kreuz?

Sprecher1: [00:19:36] Nein, das war ich, weil ich aus der (heilpädagogischen) Camphill-Bewegung kam. Von der Seite meines Vaters bin ich Vietnamese, wissen Sie. Ich habe also diesen vietnamesischen Hintergrund. Nach dem Krieg bin ich zurückgekehrt, um meine Familie zu besuchen, und war mit den Problemen konfrontiert. Im Bestreben, daran zu arbeiten, habe ich eine nichtstaatliche Hilfsorganisation ( NGO) gegründet. Mein Dilemma: wie kann ich in Vietnam eine von der Anthroposophie inspirierte Heilpädagogik oder Sonderpädagogik präsentieren ohne jegliche Missionierung für die Anthroposophie? Denn weil Vietnam eine Kolonie gewesen war, hatte es Missionare zur Genüge gehabt. Von den Franzosen wurden wir kolonisiert. Dann hatten wir die Japaner, dann die Amerikaner usw.. Das Letzte, was Vietnam braucht, sind also weitere Missionare, die mit den richtigen Antworten kommen und den Leuten sagen, was zu tun sei, was richtig und was falsch sei. Und doch wußte ich wie wertvoll es war, was ich durch die Arbeit in Camphill und in der anthroposophischen Heilpädagogik gelernt hatte, und daß es für diese Kinder sehr hilfreich sein würde. Also entwickelten wir diese Arbeit in Vietnam, arbeiteten mit behinderten Kindern und jungen Erwachsenen und gründeten Schulen und Ausbildungszentren usw.

Sprecher1: [00:20:50] Es war eine sehr interessante Herausforderung. Wie präsentiert man einen pädagogischen Ansatz, der von der Anthroposophie inspiriert ist, in einem Land, das nicht christlich, sondern buddhistisch und ein kommunistisches Land ist? Da gibt es viele Tabus, Dinge, die man nicht sagen darf. Wie macht man das? Das hat mich veranlaßt, mir Gedanken darüber zu machen, was die wesentlichen Elemente sind, die vermittelt werden können, ohne das Christentum, ohne anthroposophische Terminologie u.ä. zu verwenden. Es ging ja einzig darum, den Menschen zu helfen, die Entwicklung des Kindes zu verstehen. Wie entwickelt sich ein Kind und was braucht ein Kind, um sich möglichst harmonisch zu entwickeln? Das ist nun eine fortlaufende Arbeit seit mehr als 15 Jahren. Für mein Gefühl war es die Präsentation der Erkenntnisse, die ich aus der Anthroposophie gewonnen habe, vor einem Publikum, bei dem es für mich außer Frage stand, Anthroposophie weiterzugeben, sondern es einzig darum ging herauszufinden, was für die Kinder in Vietnam hilfreich sein kann. Selber zu überdenken, was die interessanten oder wesentlichen Elemente sind, hat mir entscheidend geholfen, diese Arbeit zu leisten.

Sprecher1: [00:22:15] Und jetzt habe ich eine ganz ähnliche Erfahrung bei der Arbeit mit dem Roten Kreuz gemacht, derweil ich die Schulungszentren des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz weltweit leite. Wir haben einige in Afrika, im Nahen Osten, in Asien usw. und meine Zuhörerschaft besteht aus Menschen aller Kulturen und aller oder keiner Religion; es können Muslime oder Hindus sein oder nichts von alledem. Und wie versuche ich, das Wesentliche dessen, was ich ihnen vermitteln möchte, daß es verständlich und akzeptabel für Menschen ist, die überhaupt nichts von Anthroposophie wissen wollen, sondern nach Wegen suchen, tiefgreifende Herausforderungen in dieser Welt zu bewältigen? Denn das sind die Menschen, die anschließend in den Konfliktgebieten arbeiten. Die Fragen, mit denen ich gearbeitet habe, waren also: Wie kann man Menschen helfen, sich so zu wandeln, daß sie diese sehr schwierigen Situationen bewältigen können? Meine Arbeit wurde dort sehr inspiriert von dem, was ich innerhalb der Anthroposophie gelernt habe, ohne jemals die Terminologie der Anthroposophie zu verwenden. Und ich habe festgestellt, daß das durchaus möglich ist.

Sprecher2:

[00:23:23] Was wäre denn das Wesentliche von dem, was Sie gelernt haben und das Sie dann zu vermitteln bestrebt sind?

Sprecher1: [00:23:29] Eines meiner Ziele war zum Beispiel zu sagen: Wenn wir ein Schulungszentrum für das Rote Kreuz betreiben, geht es nicht darum, nur eine Theorie zu lernen. Es geht darum, Menschen dabei zu helfen, einen inneren Transformationsprozess zu durchlaufen. Und dazu gehören natürlich ihr Geist, ihr Verständnis, ihr Wissen, aber auch ihr Gemüt, ihre Emotionen, ihre Gefühle und auch die Art und Weise, wie sie tatsächlich handeln und das, was sie gelernt haben, in die Tat umsetzen. Daher betrachten wir den Lernprozess nicht nur aus intellektueller Sicht, wie es normalerweise in der Wissenschaft oder an Universitäten der Fall ist, sondern versuchen herauszufinden, wie wir Menschen dabei helfen können, sich in ihrer Gesamtheit, also im Denken, Fühlen, Wollen und Verhalten zu verändern. Und das war für uns wie ein roter Faden. Wissen Sie, das ist nur ein Beispiel. Und ich habe die Erfahrung gemacht, daß es sehr erfolgreich war. Es machte keinen Unterschied, ob die Menschen Muslime oder Hindus oder Afrikaner oder Südamerikaner waren, denn das ist grundlegend menschlich. Ja. Ich denke, Steiner hatte das Schicksal eines Menschen, der seiner Zeit voraus war. Daher konnte er nicht völlig verstanden werden. Und ich glaube, es greift mit seiner Persönlichkeit ineinander. Auch heute noch gibt es gewisse Aspekte dessen, was er gedacht und mitgeteilt hat, die wir noch immer nicht vollständig verstehen.

Sprecher1: [00:25:14] Ja, das glaube ich und ich meine, daß im Normalfall zwei maßgebliche Größen ständig ineinandergreifen: Es gibt so etwas wie eine historische Dimension. Steiner, Ende des 19. Jahrhunderts, ein Mann aus Österreich, in seiner Region und seiner Zeit verwurzelt, mit all den Vorurteilen und Vorlieben dieser Zeit und darüberhinaus auf jeden Fall auch noch mit einem Privatleben. Und dann gibt es so etwas wie eine universelle Dimension, die auch in Steiners Leben nicht immer bestimmend ist. Ich glaube, das ist Teil des Problems, daß wir manchmal das eine mit dem anderen verwechseln und meinen, daß bestimmte Dinge, die er gesagt oder getan hat, außerhalb dieser universellen Dimension liegen. Aber nein, es war einfach Herr Steiner, österreichischer Philosoph des 19. Jahrhunderts, der dies tat, weil es ein Teil seines Privatlebens war. Und dann ist er zuweilen von unglaublicher Intuition oder Inspiration durchströmt, von etwas, das eigentlich für die ganze Menschheit bestimmt ist. Das geht meiner Meinung nach in gewisser Weise auch über ihn hinaus. Von daher meine ich, daß die Spannung in seinem Schicksal oder das Drama seines Schicksals darin lag, daß sein Leben gleichzeitig von diesen beiden Kräften bestimmt war. Und die Menschen um ihn herum wissen und verstehen nicht immer: Ist es jetzt der Eingeweihte, der Prophet, der spricht, oder ist es einfach nur Herr Steiner.

Sprecher1: [00:26:41] Steiner, der gerne eine schöne Zigarre und ein Glas Cognac trinkt? Wissen Sie, daran ist nichts Mystisches und daraus lassen sich keine Lehren ziehen. Es ist nur seine Person. Deshalb meine ich, daß es wirklich an dieser Ambivalenz der Persönlichkeit liegt. Das ist es, was ich hilfreich finde. Nachdem schon so viel Zeit vergangen ist, müssen wir uns nicht mehr entscheiden. Wir können Steiner als eine historische Person betrachten, als einen der großen Denker der Menschheit. Wie viele andere auch, wissen Sie. Und wir müssen uns nicht entscheiden, ob wir für oder gegen Aristoteles oder Platon oder Descartes oder Einstein oder wen auch immer sind. Wir können erkennen, daß all diese Menschen einen wichtigen Beitrag für die Menschheit geleistet haben und Steiner hat einen enormen Beitrag geleistet. Aber wir müssen nicht Stellung beziehen. Bin ich für oder gegen ihn? Bin ich ein Anhänger oder nicht? Er ist einfach einer der inspirierendsten Denker unserer Menschheitsfamilie. Und wir können zutiefst dankbar sein, daß er das geleistet hat. Dabei sollten wir auch die richtige Distanz haben, um nicht das Gefühl zu haben, daß wir alles akzeptieren oder alles ablehnen müssen. Sondern wir können unsere eigenen Vorstellungen haben mit einer wohlwollenden und doch kritischen Haltung.

Sprecher2: [00:28:20] Und sicherlich würde er das wollen.

Sprecher1: [00:28:22] Ja, das würde er.

nach der englischen Vorlage ins Deutsche übersetzt von
Ekkehard Ortmann, Juni 2023

Und hier der Link zum Video mit deutschen Untertiteln